Die demokratische Ordnung Großbritanniens hat eine Reihe von Eigenschaften, die ausländischen Beobachtern merkwürdig vorkommen dürften. Es gibt zum Beispiel keine geschriebene Verfassung (jedenfalls nicht in einem einzigen Dokument), dafür aber eine ungewählte zweite Kammer des Parlaments, die gleichzeitig (noch) als oberstes Gericht fungiert. Das politische System des Vereinigten Königreichs kann nur historisch erklärt und verstanden werden. Aber das heißt nicht, dass es grundsätzlich nicht verändert werden könnte.
Eine solche einschneidende Veränderung zeichnet sich seit längerem ab. Sie betrifft die so genannte West Lothian Question. Dieser Ausdruck bezeichnet ein parlamentarisches Kuriosum, das sich aus der Dezentralisierung von Gesetzgebungskompetenzen ergeben hat. In der Vergangenheit wurden Zuständigkeiten von Westminster nach Nordirland, Schottland und Wales abgegeben und dort regionale Volksvertretungen eingerichtet. In Schottland gibt es das Scottish Parliament, in Wales die National Assembly for Wales und in Nordirland die Northern Ireland Assembly (die zur Zeit allerdings suspendiert ist).
Nur für das größte Land des Vereinigten Königreichs gibt es keine eigene parlamentarische Vertretung: England. Rein englische Fragen werden folglich im (gesamt-)britischen Parlament in Westminster entschieden, in dem allerdings auch Vertreter aus Wales, Schottland und Nordirland Sitz und Stimme haben. So kommt es dann dazu, dass in Westminster beispielsweise der Abgeordnete für den schottischen Wahkreis West Lothian über Angelegenheiten der englischen Stadt West Bromwich abstimmen kann, nicht aber über ähnlich gelagerte Angelegenheiten in seinem eigenen Wahlkreis, da für diesen wiederum das schottische Parlament zuständig ist. Daher der Name West Lothian Question.
Eine konsequente Lösung dieses verfassungsrechtlichen Kuriosums wäre leicht herbeizuführen, indem man ein englisches Parlament einführte. Rein praktisch könnte dies aus den englischen Mitgliedern des UK Parlaments bestehen, die dann eben in Westminster ohne ihre schottischen, walisischen und nordirischen Kollegen zusammen kämen. Die Unterstützung für diese Idee ist in dem Maße gestiegen, in dem etwa die Schotten ihre eigenen Angelegenheiten in Edinburgh selbst in die Hand genommen haben, von denen seither konsequenterweise in der Londoner Presse kaum noch etwas zu erfahren ist.
Heute wurden die Ergebnisse einer Meinungsumfrage bekannt, die den Bestrebungen zur Gründung eines englischen Parlaments neuen Auftrieb geben dürfte. In dieser Umfrage sprachen sich 61 Prozent der Engländer für ein eigenes Parlament aus, und diese Forderung wurde zudem von 51 Prozent der Schotten und 48 Prozent der Waliser unterstützt.
Wer nun aber erwartet hätte, dass Tony Blair sich von dieser Umfrage beeindruckt zeigen würde, wurde auf der monatlichen Pressekonferenz des Premierministers enttäuscht. Die Engländer stellten die überwältigend große Mehrheit der Bevölkerung des Vereinigten Königreichs, sagte er, und somit sehe er keine Notwendigkeit eines eigenen englischen Parlaments neben dem UK Parlament. Er sagte: “There is a UK Parliament. There should be one class of UK MP. It’s a completely unworkable situation to have two different classes of MP.”
Doch ist dies unschwer als Ablenkungsmanöver zu entlarven. Es geht den Befürwortern eines englischen Parlaments eben nicht um einen Unterausschuss des britischen Parlaments, sondern um ein echtes englisches Parlament. Aus Gründen der Praktikabilität könnte es zwar aus den englischen Abgeordneten des Westminster-Parlaments bestehen, aber zwingend wäre dies nicht.
Der eigentliche Grund für Blairs ablehnende Haltung dürfte daher eher die bevorstehende Wahl zum schottischen Parlament im Mai sein. Hätte sich der Premierminister zu diesem Zeitpunkt für die Einrichtung eines englischen Parlaments ausgesprochen, so wäre dies eine Steilvorlage für die Schottische Nationalpartei gewesen, die mit der Forderung nach einer Abstimmung über die Unabhängigkeit Schottlands Wahlkampf betreibt.
So dürfte die Einrichtung eines englischen Parlaments für den Moment nur verschoben sein. Vom Tisch ist sie damit noch lange nicht, und wahrscheinlich wäre es für die demokratische Kultur Großbritanniens besser, wenn die West Lothian Question endlich befriedigend gelöst würde.