Roger Letsch / 02.08.2017 / 15:59 / 11 / Seite ausdrucken

Ein Lob der Minderheits-Regierung

Als ich im März dieses Jahres über die Grünen schrieb und sie als „Partei des schlechten Gewissens“ bezeichnete, hatte ich eigentlich vor, eine ganze Artikelreihe über sämtliche relevanten politischen Parteien folgen zu lassen, die in den nächsten Bundestag einziehen wollen. Es erwies sich aber als fast unmöglich, hinreichend viele Unterschiede zu finden, die mehrere Artikel gerechtfertigt hätten und ich wollte nicht absichtlich gegen meine Regel Nummer 1 – „langweile die Leute nicht“ – verstoßen. Deshalb habe ich letztlich alle Gedanken zu diesem einen Artikel zusammengefasst und vieles weggelassen. Zudem lässt sich das, was ich selbst mir von dieser Bundestagswahl erhoffe, auf diese Weise am besten darstellen.

Viele Wähler glauben, heute schon recht genau zu wissen, was nach der Bundestagswahl im September – deren Ergebnis sowieso schon ausgemacht und sicher sei – passieren werde, und das frustriert sie. Die Wetten stehen derzeit gut für Schwarz/Gelb und falls das nicht klappen sollte, stehen die Sozialdemokraten selbstredend für eine weitere große Koalition bereit, die sie sich natürlich teuer abkaufen lassen werden – vielleicht wird Gabriel fordern, neben dem Amt des Vizekanzlers und Außenministers auch das Ministerium für Nachspeisen übernehmen zu dürfen. Sonst würde sich wenig ändern. Aber egal ob die Kugel auf gelb oder rot fiele, es bliebe doch die Kugel von Merkel. Weitere vier verlorene Jahre also. Ich sage Merkel, nicht CDU, weil das nicht das Selbe ist. Die CDU verliert auf jeden Fall. Das Land leider auch.

Es gibt einige Unwägbarkeiten in den Umfragen, die mir die aktuellen Zahlen als nicht sehr sicher erscheinen lassen. Da wären die überraschend guten Umfragewerte der Grünen zu nennen, die ich nach all den inhaltlichen Nullrunden und personellen Nullnummern eigentlich unter der magischen Fünf sehe. Die FDP wird es wohl schaffen, auch wenn Haltung und Auftreten des Spitzenpersonals dieser Partei mich als liberal gesinnten Menschen ziemlich enttäuschen und Christian Lindners Attitüde eher als Drehbuch für einen weiteren Film der Reihe „Ich, einfach unverbesserlich“ taugt (nur der Titel, nicht der Esprit), als für das Parlament. Der Wähler scheint aber vergessen zu haben, aus welchen Gründen er es 2013 für keine gute Idee gehalten hatte, die FDP wieder mit den anderen Parteien im Bundestag spielen zu lassen. Die Umfragewerte sind überraschend stabil, obwohl (oder gerade weil?) Lindner im NRW-Siegesrausch laut herausbrüllte „Wir werden uns nicht ändern, wir machen genauso weiter wie bisher!“ Na, wenigstens ein kleines bisschen liberaler hätten die Liberalen schon werden können, finde ich.

Unabhängige Abgeordnete über Direktmandat? – Viel Spaß beim Suchen

Gespannt bin ich auf die Handvoll AfD-Abgeordneten, die sehr wahrscheinlich dem nächsten Bundestag angehören werden. Ich bin nicht unbedingt ein großer Fan dieser Partei – auch wenn mir das gelegentlich nachgesagt oder vorgeworfen wird. Meine Artikel befassen sich aber eher mit der undemokratischen Auseinandersetzung der AfD-Gegner mit dieser Partei. Der Ton ist nämlich durchweg nur schrill, unsachlich und unwürdig, was die Kritiker weit mehr herabsetzt als die Kritisierten – die Umfragewerte belegen das. Diese Erkenntnis in die bis zu den Ohren mit ideologischer Holzwolle gefüllten Köpfe der Politiker in den sogenannten „Altparteien“ hineinzubringen, erweist sich aber als extrem schwierig. Interessant wird die Sache deshalb, weil im Gegensatz zu den recht provinziellen Landesparlamenten, in deren 13 die AfD ja bereits sitzt, über den Bundestag sehr viel mehr Licht der Öffentlichkeit ausgebreitet ist.  Parlamentarische Mittelchen der Ächtung, des Sitzungsausschlusses oder der Rüge werden somit viel transparenter sein, als anderswo.

Es wird spannend sein, zu beobachten, ob Hände geschüttelt oder brüsk abgewehrt werden wie die von Leprakranken. Ob die gleichen Regeln – auch die der Toleranz und Kollegialität gegenüber dem politischen Gegner, auch für diese Abgeordneten gelten werden? Außerdem könnte ein wenig mehr Leben in die Bude kommen, wie es früher häufiger durch politisch unabhängige, parteilose Parlamentarier der Fall war, die dem heutigen von Kaderparteien geprägtem Politikbetrieb komplett fehlen. Abgeordnete, die ganz allein und als Direktkandidat ihres Wahlkreises und ohne Parteihilfe ins Parlament einziehen, braucht man derzeit nicht mal mit der Lupe suchen. Erika Steinbach als „Ausgetretene“ zählt hier nicht, auch wenn der unwürdige Umgang ihrer ehemaligen Kollegen mit ihr leider genau das belegt, was ich gerade über Toleranz und Kollegialität sagte.

Und die SPD? Kann Schulz es vielleicht doch noch schaffen? Dazu müsste Merkel schon die Grenze öffnen und eine Million Migranten, unter die ich ein paar Flüchtlinge mischen, ins Land lassen. Ach, ich vergaß: hat sie ja schon getan, ohne dass die SPD davon hätte profitieren können – sie beteiligte sich vielmehr selbst kräftig an dem Rechtsbruch. Ich kann auch ehrlich keinen meiner Daumen erübrigen, um den Sozialdemokraten durch kräftiges Drücken ein Quäntchen Glück zu wünschen, weil gut die Hälfte des Regierungspersonals, das meiner Meinung nach in den letzten vier Jahren unser Land in die Seife geritten hat, SPD-Inventar ist. Maas, Gabriel, Schwesig, Barley, Özoguz, Hendricks, Stegner…jeder dieser Namen ist untrennbar mit Gesetzen, Initiativen und „Bewegungen“ verbunden, die mit Demokratie nicht das Geringste zu tun haben und stattdessen an der Abschaffung derselben zugunsten einer staatlichen Bevormundungsdemokratur mit planwirtschaftlichem Antlitz arbeiten. Maas steht für Zensur, Stegner für die rhetorische Gosse, Gabriel für miese Laune und großspuriges Auftreten, Özoguz für eine schleichende, lächelnde Islamisierung, Hendricks für Inkompetenz und das Duo Schwesig/Barley für die Einführung eines würdigen Nachfolgers des Ministeriums für Agitation & Propaganda.

Melden Sie sich doch als Wahlbeobachter

Fürst Frank-Walter I. entzieht sich als Staatsoberhaupt meiner Kritik nur deshalb, weil ich der Würde des Amtes entsprechend versuchen möchte, höflich zu bleiben. Sonst würde ich ihn für den Beweis der Wirksamkeit des „Peter-Prinzips“ halten, demzufolge man in einer Hierarchie immer nur solange aufsteigt, bis man die Stufe seiner absoluten Inkompetenz erreicht hat: Weitgehend unsichtbar im Amt – das ist auch schon das Beste, was man über ihn sagen könnte. Er eckt kaum an und schmutzt fast nicht, weshalb er für Angela Merkel ein weit bequemerer Grüßaugust ist als es Gauck war – zumal er ja auch noch dazu nur selten grüßt. Hauptsache, die Flugbereitschaft wärmt die Turbinen für einen Kurztrip von knapp 100 Kilometern immer gut vor.

Bleibt noch die Linke. Die Gräben, die mich inhaltlich von dieser Partei trennen, sind jedoch breit, tief und mit brennendem Pech gefüllt. Mehr ist dazu eigentlich nicht zu sagen. Allerdings gibt es auch in dieser Partei den einen oder anderen Akteur, dessen Arbeit mich positiv überrascht – aber solche gibt es im Grunde in jeder Partei.

Und, was soll nun werden? Das fragen Sie sich doch gerade, oder? Gibt er keine Empfehlung? Nein. Nicht einmal die, überhaupt zur Wahl zu gehen, denn auch das muss jeder selbst entscheiden. Lassen Sie sich nicht einreden, wählen sei die edelste Bürgerpflicht und nur, wenn sie diese wahrnähmen, seien sie demokratisch qualifiziert und mündig. Wenn Sie nicht wissen, wen und weshalb Sie wählen wollen – lassen Sie es. Wenn die Kandidaten Ihres Wahlkreises Ihnen samt und sonders zuwider sind, dann gehen sie nicht zur Wahl. Es gibt andere Möglichkeiten: Wenn Sie nicht aktiv wählen wollen und am 24. September 2017 Zeit haben, melden Sie sich doch als Wahlhelfer oder Wahlbeobachter. Nach einigen bedenklichen Vorfällen bei den Landtagswahlen der jüngsten Vergangenheit müssen wir uns nämlich leider von der arroganten Vorstellung verabschieden, Wahlfälschungen wären nur etwas für Despoten und Diktatoren. Es gilt auch bei uns, lukrative Posten zu verteilen und Einfluss zu gewinnen. Ehrlichkeit ist oft – und leider auch in Deutschland – nur Mangel an Gelegenheit. Umgekehrt gilt natürlich das gleiche.

Nach 68 Jahren, in denen es nur eine einzige Art des Regierens in Deutschland gegeben hat – nämlich die einer wie auch immer gearteten parlamentarischen Mehrheit – ist es höchste Zeit, mal etwas gänzlich Anderes auszuprobieren. Merkel wird wahrscheinlich so um die 38 Prozent  erhalten und mit diesem Ergebnis sollte es die Union zur Abwechslung mal allein versuchen. In einer Minderheitsregierung. Ohne Koalitionspartner.

Kein bequemes Durchwinken von dubiosen Gesetzentwürfen

Wenn es so käme, würde endlich wirklich jede Stimme im Parlament zählen, bei jeder Abstimmung. Fraktionszwang würde obsolet, weil Streit in der Sache und ringen um Zustimmung aufgewertet würden und in diesem Kampf wäre eine widerwillige Fraktion der denkbar schlechteste Ausgangspunkt. Kein bequemes Durchwinken von dubiosen Gesetzesentwürfen mit sichereren Mehrheiten mehr, kein abgesprochener Anwesenheitsproporz, der es selbst einem Plenum von knapp 40 Abgeordneten ermöglichte, das NetzDG auf den Weg zu bringen, nachdem eine halbe Stunde zuvor bei der „Ehe für alle“ noch Vollzähligkeit herrschte. Ich will, dass die Regierung um jeden Euro, jedes Gesetz, jeden Rechenschaftsbericht im Parlament kämpft, sich Mehrheiten von Fall zu Fall verschaffen und überzeugen muss.

Ich will, dass statt füllenden Textbausteinen, Parteitagsreden und klebrigem Eigenlob wieder eine leidenschaftliche, sachlich fundierte, zivilisierte und engagierte Rhetorik im Plenum herrscht und zittrige Mehrheitsverhältnisse eine Anwesenheitspflicht geradezu erzwingen. Jeder Minister und auch die Kanzlerin sollte, wenn sie das Parlament betreten, wachsweiche Knie haben, anstatt sich von einer zum Jubelchor mutierten Leibwache aus Fraktionsfreunden und Claqueuren getragen und beschützt zu fühlen. Alternativlose Politik wird es erst dann nicht mehr geben, wenn das Parlament seine Aufgabe, die Kontrolle der Regierung, auch mit Macht ausüben kann. Diese Macht besteht in dem kleinen, schönen Wörtchen „Nein!“ und der kurzen, knappen Frage „Warum?“.

Was sagen Sie? Handlungsfähigkeit? Das gehe so nicht und mangelnde Mehrheiten würden dazu führen, dass viele Gesetze es gar nicht durch das Parlament schaffen? Gut so! Vielleicht würden sie aber auch nur besser vorbereitet und viele legislativen Homunculi würden das Licht der Parlamente erst gar nicht erblicken, um danach mühsam in Karlsruhe totgeschlagen zu werden. Vielleicht hätten die Richter am Verfassungsgericht dann endlich mal Zeit, sich mit wichtigeren Dingen zu befassen. Ich will und kann nicht genau quantifizieren, wie groß der Anteil komplett überflüssiger Regelungen, Novellierungen und Gesetze sein mag, die der Bundestag nur deshalb beschließt, weil er die nötigen Mehrheiten mühelos zusammenbringt. Es sind aber mit Sicherheit viel zu viele – das Netzwerkdurchsetzungsgesetz ist das beste Beispiel dafür.

Aber wird es so kommen, wie ich es mir erhoffe? Bekommen wir mal zur Abwechslung eine Minderheitsregierung? Werden SPD oder FDP den Verlockungen widerstehen können, sich mit Ministerämtern, Staatssekretären und anderen Posten und Pöstchen zu versorgen? Ich denke an Schulz, Gabriel, Maas und Lindner und meine Hoffnung schwindet, dass diese sich mit ihrer Rolle als „einfache Abgeordnete“ zufrieden geben würden. Aber auch Frau Merkel wäre mit solch einer Situation komplett überfordert, hieße dass doch, auf der Weltbühne den Nimbus der eisernen Kanzlerin von Germanias Gnade einzubüßen und die „restliche freie Welt“ mangels Hausmacht nicht mehr führen zu dürfen.

Ich weiß natürlich nicht, wie es am Ende kommen wird, aber nun wissen Sie, warum ich gerade keinen Daumen für eine bestimmte Partei frei habe. Ich versuche, auf’s Ganze zu schauen und setze bei diesem Roulette darauf, dass die Kugel weder auf gelb, rot oder gar grün landet, sondern aus der Bahn fliegt. Über den Tellerrand schauen, kann ja manchmal hilfreich sein. Warum nicht gleich einfach mal über ihn drüber springen?

Angesichts der Headline darf der hier nicht fehlen:
Bob Dylan, The Times, They are a Changing.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Roger Letschs Blog Unbesorgt.

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Leserpost

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Lars Seibert / 02.08.2017

Ich gebe Ihnen völlig recht, eine MInderheitregierung wäre gut. Das sagte ich schon 2013 nach der Wahl, in der Hoffnung dass sich die SPD nicht als Juniorpartner hergeben würden. Aber leider waren für Gabriel und Co. die Verlockungen der Fleischtöpfe zu groß.

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