Von Volker Seitz.
Nirgendwo auf der Welt wächst die Bevölkerung so schnell wie im Niger. Die Einwohnerzahl hat sich seit der Unabhängigkeit im Jahr 1960 versechsfacht – auf mittlerweile an die 20 Millionen. Jede Frau hat im Durchschnitt 7,6 Kinder. Jährlich wächst die Bevölkerung um 3,9 Prozent, weltweiter Rekord. Dies führt unvermeidlich zu Armut und Hunger.
In der Rangliste der UNDP, die die menschliche Entwicklung abbildet, ist das Land auf dem letzten Rang. Solange aber die Bevölkerung in diesem rasendem Tempo wächst, gibt es keine Besserung. Das Land lebt dazu auf einer Zeitbombe, und die heißt Arbeitslosigkeit. Die hohen Geburtenraten gehen nicht mit der Schaffung von Arbeitsplätzen einher, das ist neben der fehlenden Bildung ein Nährboden für Radikalisierung und Extremismus.
Viele Menschen haben kaum Chancen auf ein geregeltes Einkommen. Vor Jahren als ich im Niger tätig war, ging mindestens die Hälfte der Menschen in der Hauptstadt Niamey keiner bestimmten Beschäftigung nach, hatte keine beständige Arbeit. Sie verdingten sich als Tagelöhner, trieben mit irgendetwas Handel oder bewachten etwas. Daran hat sich nichts geändert.
Lehrer werden miserabel ausgebildet und schlecht bezahlt
Niger hat weltweit die höchste Analphabetenrate. Dort können etwa 80 Prozent der Männer und Frauen über 15 Jahre weder lesen noch schreiben. Laut Elke Erlecke, der Leiterin des Regionalprogramms Politischer Dialog Westafrika der Konrad-Adenauer-Stiftung gibt es „70 Prozent Analphabeten im Parlament im Niger“. Die Bildungssituation im Niger ist sehr beunruhigend. Die Bildungsanstrengungen können nicht mit dem schnellen Bevölkerungswachstum Schritt halten. Lehrer werden oft miserabel ausgebildet und schlecht bezahlt.
Zwar bemüht sich der seit 2011 gewählte Präsident mehr als bisher zu tun, aber Bildungsqualität und Alphabetisierung Erwachsener bekommen noch nicht genügend Aufmerksamkeit. Wichtig für den langfristigen Erfolg von Alphabetisierungskampagnen ist aber auch, dass sie von Maßnahmen zur Verbesserung der reproduktiven Gesundheit und Familienplanung begleitet werden. Neben dem Zugang zu Bildung muss auch deren Qualitätsverbesserung in den Mittelpunkt gerückt werden.
Nicht wichtig, ob jemand lesen und schreiben kann
Weniger als 40 Prozent der eingeschulten Schüler erreichen die letzte Grundschulklasse. Sie wachsen hinter einer Mauer von Unwissenheit und Armut auf. In vielen ländlichen Regionen ist es immer noch nicht wichtig, ob jemand lesen und schreiben kann. Die Familie sieht ihren wirtschaftlichen Vorteil eher in vielen Kindern, die in der Landwirtschaft helfen können. Eine große Zahl von Kindern zu ernähren, können sich viele Familien inzwischen aber nicht mehr leisten.
Staatszerfall und Terrorismus in den Nachbarländern bedrohen die Sicherheit im Land. Die Sicherheitsbehörden arbeiten professionell. Hohe Kosten (10 Prozent des Haushalts) verursachten allerdings die Anschaffung und Unterhaltung von sieben Hubschraubern, zwei Aufklärungsflugzeugen, einem Transportflugzeug und zwei Jagdflugzeugen. Diese Anschaffungen gelten als Risikoversicherung gegen Islamisten aus Mali, Algerien und Nigeria. US- und französische Drohnen überwachen von Niger aus islamistische Gruppen in der Region. Auch in Agadez im Norden des Landes soll dem US National Defense Authorization Act für 2016 zufolge für etwa 50 Millionen US-Dollar eine weitere Basis errichtet werden, um Operationen im westlichen Afrika zu unterstützen.
Boko Haram rückt näher
Die Bedrohung aus Nigeria durch Boko Haram kam 2015 näher: Die Terrormiliz führte seit Februar wiederholt Angriffe in der südostnigrischen Provinz Diffa durch. Im Januar 2016 mussten im Niger 99 Schulen in sichere Gebiete verlegt werden.
Bis heute hat sie Zehntausende Menschen getötet und sie benutzt Entführungen, Folterungen und Vergewaltigungen als Mittel des Krieges. Auch die Bedrohung durch "Al-Kaida im Islamischen Maghreb (AQMI) kommt näher. Am 13. März 2016 ermordeten die Terroristen in der benachbarten Elfenbeinküste 18 Menschen, darunter auch die Leiterin des Goetheinstituts in Abidjan. Die Terroristen haben bislang vor allem von der Uneinigkeit zwischen den Nachbarländern, von bestehenden Grenzkonflikten und von mangelnder Fähigkeit, in elementaren Sicherheitsfragen zusammenzuwirken, profitiert. Armut und Arbeitslosigkeit machen die Menschen empfänglich für radikales Gedankengut. Und diese Probleme dürften sich in den nächsten Jahren verschärfen.
Ein gut geölter Samaritterapparat hat kein Interesse an Veränderung
Das hohe Bevölkerungswachstum führt regelmäßig zu Ernährungskrisen. Übernutzung von Böden und Erosion gefährden beständig die landwirtschaftliche Produktion. Nur 15 Prozent des Landes sind heute landwirtschaftlich nutzbar. Harouna Siduku, Soziologe an der Universität von Niamey, der Hauptstadt Nigers beklagt, dass alle wüssten, dass sein Land mit der regelmäßigen Wiederkehr von Nahrungsmittelkrisen rechen müsse, nur hätten sich weder die Regierenden noch die Hilfsorganisationen darauf eingestellt. Es gäbe weder eine echte Landwirtschaftspolitik noch Investitionen in Agrartechnik oder in erneuerbare Energien oder gar in die Ausbildung von Agraringenieuren. Stattdessen würden die Verantwortlichen „am Tropf der Nothilfe auch noch das trübe Image als Katastrophenland pflegen.“ Ein gut geölter Samaritterapparat gleicht routiniert alle Nahrungsmitteldefizite aus. Die internationale Hilfsindustrie hat gar kein Interesse daran, dem Mechanismus der Zwangsläufigkeiten ins Räderwerk zu fallen. Sonst wäre sie ja überflüssig.
Eine ehrliche Analyse von Missständen wäre die Grundlage für die notwendigen Reparaturarbeiten. Auch die Geber sollten endlich Probleme wie das Bevölkerungswachstum und die Korruption ansprechen. Es gibt unter Entwicklungspolitikern eine idealisierte Wahrnehmung vieler Länder Afrikas und die Schwierigkeiten werden nicht vorbehaltlos angesprochen. Niemand will die Wahrheit über Afrika genau wissen. Es werden keine Ziele formuliert. Aber weitere Zurückhaltung schadet der großen Masse der Afrikaner.
Statt über die angeblich zu geringe Entwicklungshilfe zu streiten, müssten die Regierungen in Afrika durch Koppelung der Hilfsgelder an eine realistische Bevölkerungspolitik gedrängt werden, die hohen Geburtenraten mit weit mehr Nachdruck anzugehen. Im Westen wurde dies bislang nicht getan, aus Angst, als "Rassist" zu gelten. Mit den Imamen, die die Verhütung als Versuch des Westens sehen, die Entwicklung des Landes zu blockieren, muss dringend gesprochen werden. Der Ansatz von Entwicklungs-Minister Gerd Müller mit moderaten religiösen Führern zusammenzuarbeiten, um die heikle Frage der Familienplanung anzugehen, ist richtig. In Ländern wie dem Niger hören die Menschen mehr auf religiöse Führer als auf Regierungen. Das hat das BMZ - wenn auch spät - richtig erkannt.
Gutes Beispiel Senegal
Dass dies möglich ist, zeigte der Senegal im Hinblick auf AIDS. Auf Initiative der damaligen Frauenministerin wurde dort bereits 1996 von den Imamen anlässlich des Freitagsgebets öffentlich in den Moscheen über die Notwendigkeit und Pflicht jedes Familienvaters gepredigt, die Gesundheit der Familie durch den Gebrauch von Kondomen zu schützen.
Die hohe Zahl Jugendlicher ohne Zukunftsperspektive bleibt ein ernstes Problem für den Kontinent und wegen der Flüchtlingsströme auch für Europa. Die Entwicklungshilfe muss deshalb an eine vorausschauende Bevölkerungspolitik mit positiven Anreizen zur Geburtenbeschränkung gekoppelt werden.
Volker Seitz war 17 Jahre als Diplomat in Afrika tätig. Sein Buch „Afrika wird armregiert oder Wie man Afrika wirklich helfen kann” erschien 2014 bei dtv in 7. überarbeiteter und erweiterter Auflage.