Von Ingo Langner
Ob die Entscheidung, die hauptstädtische Feierstunde für Herta Müller vor einem blutroten Vorhang zu zelebrieren, eine gute Idee war, liegt im Auge des Betrachters. Jeder Zentimeter des Tuches weckte auf schmerzhafte Weise die Erinnerung an das kommunistische Fahnenrot, mit dem die zu Feiernde die ersten drei Lebensjahrzehnte tyrannisiert worden ist und gerade dieser Aspekt ihrer Biographie ist für Herta Müllers Werk konstitutiv. Sie gehört zu jenen, für die der Kommunismus keine gute Idee ist, die leider nur falsch umgesetzt worden sei. Doch wies von den Laudatoren nur der rumänische Philosoph, Kunsthistoriker und Politiker Andrei Gabriel Plesu auf diesen Umstand hin. In ihrem jüngsten Roman „Atemschaukel“ schildert die Rumäniendeutsche die tödlichen Grausamkeiten eines sowjetischen Hungerlagers, und das Buch gehört zum Höchsten, was nach dem Zweiten Weltkrieg in deutscher Sprache zu Papier gebracht worden ist.
Mit ihrem Antikommunismus ist die Schriftstellerin in Deutschland ein weißer Rabe. Denn jeder, der die deutsche Literaturszene kennt weiß, dass bis in die Spitzen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung hinauf immer noch der Flaschengeist mit dem Etikett „Gruppe 47“ den Ton angibt, und überall dort, wo sich deutsche Autoren, Verleger und die sie medial begleitenden Kulturmaßgeblichen versammeln, kann man Herzen links schlagen hören.
So gesehen, könnte die diesjährige Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller zumindest für den Teil des deutschen Literaturbetriebs, der auf dem linken Auge blind ist, eine Art Störfall werden. Während die deutschsprachigen Nobelpreisträger Elfriede Jelinek und Günter Grass mit jedem öffentlichen Wort den linken Mainstream bedienen, tut Herta Müller genau das nicht. Mit „Atemschaukel“ hat sie unübersehbar die Mordmaschine namens Gulag auf die deutsche Debattenagenda gesetzt. Das haben manche gar nicht gern. Möglicherweise ist dieses Buch vor dem Nobelpreis auch mancherorts schlechtgelaunt bekrittelt worden, was „nach Tisch“ naturgemäß keiner mehr wahrhaben will.
Herta Müller hat sowohl im rumänischen Sozialismus als auch im deutschen Exil immer Widerstand gegen die roten Barbaren geleistet. Im Banat, wo sie in einem Dorf unter Dörflern aufwuchs, war das lebensgefährlich – denn Ceausescus Staatsschutz „Securitate“ schreckte auch vor Mord nicht zurück – und in ihrer Wahlheimat Berlin ist diese Art Widerstand auch nicht in allen Literaturhäusern gern gesehen.
Weil aber zum Glück gegen Herta Müllers unnachgiebige Sprachmächtigkeit kein Kraut gewachsen ist und ihre persönliche Integrität nur von einigen rumänischen Ex-Geheimdienstlern und leider auch innerhalb der Evangelischen Kirche Deutschland in Frage gestellt wird, war im bis unters Dach gefüllten „Haus der Berliner Festspiele“ der hauptstädtische Literaturbetrieb in Vollzahl angetreten und feierte Herta Müllers Transit auf den Olymp herzlich – wenn auch mit leicht angezogener Handbremse.
Ihr Verleger Michael Krüger bedankte sich mit einer heiteren Parodie auf seinen Stockholmer Frack. Dieses Kleidungsstück ist bei der Nobelpreisverleihung unausweichliche Pflicht, in Deutschland aber so gut wie ausgestorben. Die Schauspieler Albert Kitzl und Ulrich Matthes lasen mit Bravour aus Herta Müllers Romanen. Rumänische Musiker sorgten für Spiel und Gesang, und die Gefeierte selbst trug an diesem denkwürdigen Abend zwei handvoll ihrer Gedichte vor. Die sind wie das folgende allesamt eine Seelen- und Herzensweide: „Das Dunkelfeld über/ der Stadt/ ist die Saat/ von schwarzen/ Melonen sämtliche Sterne/ sind ihre Kerne sowie/ ihre Blätter unsere Betten/ und der es weiter sagt/ geht leider hops/ wegen Geheimnisverrat“.
Weil sie jedes ihre Poeme überdies zu ungemein kunstvollen Bildtext collagiert, konnten die Blätter während des Vortrags auf eine Leinwand projiziert werden. Die Dichterlesung war also doppelt beglückend.
„Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis“ hat Herta Müller ihre Stockholmer Nobelvorlesung genannt. Die hebt mit der Bemerkung an: „Ich wünsche mir, ich könnte einen Satz sagen für alle, denen man in Diktaturen die Würde nimmt.“ Aus den tiefschwarzen Schattenfalten des am Ende des Abends immer noch blutroten Bühnenvorhangs, vor dem die scheue Dichterin ihre seit Stockholm weltbekannte grazile Silhouette einmal mehr dem Blitzlichtgewitter aussetzen musste, hätte wer wollte, gewiss manches immer noch aktuelle Detail aus dem düsteren Geschichtskapitel „Volksrepublik Rumänien“ fischen können.
Doch das wollte keiner. Nur die Geehrte selbst erinnerte daran, dass auf den Tag genau zwanzig Jahre zuvor bei einem Aufstand in Temesvar 1 700 Menschen getötet wurden, als sich das rumänische Volk gegen die kommunistische Diktatur erhob. Es ist hinzuzufügen, dass der Autokrat Nicolae Ceausescu am 25. Dezember 1989 vor ein Militärgericht gestellt und standrechtlich erschossen wurde, aber viele seiner Helfershelfer bis heute ungeschoren davonkamen.