Von Jesko Matthes
Meine langjährige erste Freundin, heute Ärztin in Lübeck, beschwerte sich, ich sei so „östlich“. Bei absteigenden Molltonarten würde ich sentimental, mit Wodka könne man mich nicht unter den Tisch saufen, für alles und jedes hätte ich verbale Verniedlichungsformen, der Anblick von Birkenwäldern und Elchen mache mich glücklich, ich sympathisiere mit Wölfen, sei Krypto-Monarchist, liebte komplizierte Frauen (ihr Glück), schwankte zwischen kadavermäßiger Pflichterfüllung und geistiger Trägheit, drastischer Diesseitigkeit und religiöser Gefühlsduselei; insgesamt hätte ich zuviel Dostojewskij gelesen. Solche Diskussionen führten wir tatsächlich.
Kunststück, antwortete ich, ich sei Westberliner, mein Vater habe mich erst mit 65 Jahren gezeugt, in seiner Jugend habe er im Regiment „Alexander“ gedient, mein Großvater habe in Königsberg Medizin studiert, fließend polnisch und recht gut russisch gesprochen, ich hätte Die Brüder Karamasow und Die Dämonen verschlungen, am Ende geweint, DT64 und Radio Moskau gehört, mich von russischen Taxifahrern chauffieren lassen, die in Wirklichkeit jüdische Musikprofessoren waren, das Pausenzeichen in deren Mittelwellenradio sei mir noch vertraut, gawarid Moskwa. Nachts, wenn ich mir als Student ein Taxi leistete, war der Empfang besonders gut.
Vor ein paar Jahren schrieb ich einen etwas gehässigen Leserbrief an eine der führenden deutschen Tageszeitungen, jene, hinter der angeblich immer ein kluger Kopf steckt. Wenn ein Kopf mit einer Zeitung zusammenprallt, dann raschelt es. Ist es die Zeitung, oder sind es die eigenen Haare? Ich weiß es nicht. Der Brief wurde nicht veröffentlicht.
Ich schrieb sinngemäß, ich glaubte nicht an ein Ende des Kalten Krieges. Zwar sei der Eiserne Vorhang gefallen; an den unterschiedlichen geopolitischen Interessen aber habe sich nichts geändert. Auch die seltsame Ambivalenz „der Russen“ zwischen stramm autoritärer Führung einerseits und dem ansonsten in allen Kreisen verbreiteten Denken, nach dem „der Zar weit“ ist, sei die gleiche. Und Deutschland sei das Land Europas mit der jüngsten und brüchigsten Demokratie. Es sei ein wenig wie in dem garstigen Bonmot des konservativen Reichskanzlers Bismarcks, seiner Antwort auf das Luther zugeschriebene „Apfelbäumchen“. Bismarck sagte, wenn morgen die Welt unterginge, so zöge er nach Mecklenburg, denn dort passiere alles fünfzig Jahre später. In dieser Hinsicht ist Deutschland das Mecklenburg Europas. So machten die Deutschen 50 Jahre später als Frankreich Revolution, wurden die Deutschen Jahrhunderte später als andere europäische Länder auf Kosten eines Krieges ein einheitliches Staatsgebilde, verspielten sie die erste Republik, tauchten den Kontinent in Blutbad und Verbrechen und mussten in der zweiten Republik zu Demokraten erzogen werden, und auch das wieder einmal nur teilweise und geteilt. Die andere deutsche Republik erzog derweil ihre Arbeiter und Bauern. In der europäischen Normalität ist unsereins erst 1990 einigermaßen angekommen.
Ende einer Annäherung
Nur ein riesiges, in wesentlichen Teilen europäisches Land wirkt in mancher Hinsicht zuweilen noch „mecklenburgischer“. Daher gehört mein Sentiment - und zuweilen Ressentiment - Russland.
Seit Schröder und Putin, so schrieb ich der F.A.Z., sei der Ost-West-Konflikt erst latent und dann erneut offen ausgebrochen; und das trotz gemeinsamer Interessen im Handel und im Kampf gegen den Terror. Schwere Fehler seien auf beiden Seiten begangen worden.
Das begann im noch relativ Banalen. Auf Arbeitsebene gibt es bis heute gute wissenschaftliche Kontakte auf dem Gebiet der Raub- und Beutekunst. Eine offizielle Annäherung hat es dennoch nie gegeben, die Fronten haben sich verhärtet. In der 1990er Jahren wartete ich auf deutscher Seite verzweifelt auf die Initiative zu einer deutsch-russischen Kulturstiftung, die es ermöglicht hätte, nicht nur das Bernsteinzimmer wiederzugewinnen, sondern auch den „Schatz des Priamos“ als Wechselausstellung im Rahmen einer Triennale mal in Russland, mal in Berlin zu zeigen.
Auf russischer Seite wartete ich ebenso vergebens auf eine Assoziation des Kaliningrader Gebiets, also Königsbergs, als Sonderfreihandelszone an die EU, mit Visafreiheit für EU-Bürger. Davon hatte ich mir eine echte wirtschaftliche und kulturelle Annäherung und ein deutliches Signal des Friedens erhofft, auch eine einfache Möglichkeit für Russland, Anschluss an die Märkte der EU und Skandinaviens zu gewinnen. Ich war so dämlich, an gemeinsame Manöver und gegenseitige Truppenbesuche abseits der Segelschulschiffe beim Hamburger Hafengeburtstag zu denken, was für ein gewaltiger, militaristischer Irrtum.
Stattdessen sah ich: Das Ende der Annäherung per Dekret der Duma über Raub- und Beutekunst schon zu Helmut Kohls Zeiten; die Annektion der Krim; die militärische Destabilisierung des Donbas; die Stationierung von Atomwaffen in Kaliningrad; wirtschaftliche Sanktionen der EU gegen Russland bei nahezu totalem Mangel an militärischer Abschreckung.
Eine Sprache, die Russland versteht
Diese Sprache wird in Russland tatsächlich nicht verstanden. Signale des Friedens sind unterblieben; Signale der Wehrhaftigkeit sind unterlassen worden. Das Ganze wirkt wie eine absurde Verkettung von Missverständnissen. Dabei wäre es beiden Seiten leicht möglich gewesen, an gemachte bittere Erfahrungen anzuknüpfen. Das lächerliche Honiggeschmiere Gerhard Schröders in Richtung des „lupenreinen Demokraten“ war genauso irreführend und überflüssig wie es Putins und Lawrows kontraproduktive Bissigkeiten und Desinformationskampagnen in Richtung des EU und des „Westens“ heute noch sind. Ich bin so verstiegen, zu glauben, dieser letzte Satz würde im Kreml sofort verstanden.
Als Mitglied des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge ist mir nur noch die Förderung dieser inzwischen weitgehend epigonalen Förderung der Versöhnung geblieben. Ich verstand schon in den 1980er Jahren nicht, warum mich die Leute von der „Aktion Sühnezeichen“ hassten, die doch das selbe Ziel von links verfolgten wie ich von konservativer Seite; der Riss geht also auch durch mein Land. Dass ich die russischen Veteranen mit den drei Dutzend Orden an der Brust respektiere, half mir nichts.
Ich persönlich blicke zurück auf eine ganze Ära verpasster Deutlichkeiten und Möglichkeiten, eine Ära der langsamen erneuten Eskalation. Ich bin kein Diplomat; an vielen Stellen wäre ich deutlich undiplomatischer gewesen, an anderen deutlich versöhnlicher.
Putin hätte man rechtzeitig fragen sollen, ob er wirklich zurück will zu jener geschlossenen Gesellschaft, in der er selbst groß geworden ist, ob ihm der Name Sacharow noch etwas sagt, der Name jenes Patrioten, der erst die Wasserstoffbombe baute und dann die Demokratie befördern wollte. Man hätte ihn fragen müssen, welchen Zusammenhang er da übersieht – etwa jenen einfachen, dass ein starkes Land sich die Demokratie und den Rechtsstaat leisten kann... Sich selbst hätte man fragen müssen, in angemessener Erinnerung an den Kalten Krieg, wie man erwünschte, vielleicht sogar einmal ersehnte Hilfen anbieten und gleichzeitig eine gedachte Grenze aufzeigen kann, die nicht von östlicher Seite mit einer auch nur ideologischen Kombination aus Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl bewacht werden muss. Kulturaustausch, Schüleraustausch, wirtschaftliche Assoziation wären solche einfachen Chancen gewesen - die heute bereits wieder krude, anbiedernd und zwiespältig wirken. Der „Osten“ Deutschlands hätte mitgezogen, manch einer in Erinnerung an die „Deutsch-Sowjetische Freundschaft“, sehr verschiedene Menschen wären jenseits ihrer nationalen Neurosen an einen Tisch gekommen. Von solcher Harmoniesucht war ich mit dreißig, vor zwanzig Jahren, schon mehr heimgesucht als beseelt. Alles vergebens?
Deutschland kommt immer noch eine wichtige Rolle zu, doch verpasste Chancen tendieren nicht dazu, sich erneut zu bieten – wenn überhaupt, dann nur bei sehr deutlicher Aussprache und aus einer Position beiderseitiger Stärke.
Was die EU betrifft, so halte ich diese Chance weitgehend für verpasst, und die Schwäche der EU schwächt auch die Rolle ihres angeblichen Hegemons, die Rolle Deutschlands. Wir und unsere hehren Ideale sind deutlich verunsicherter und schwächer geworden; keine gute Position.
Geschichte wiederholt sich nicht, eher rächt sie sich. Ich glaube, Gefahren lauern nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.
Jesko Matthes ist Arzt und lebt in Deutsch Evern.