Von Moritz Mücke
Als Deutscher in den USA hat man es im Moment nicht leicht. Zwar bleibt man von den unmittelbaren Auswirkungen der politischen Inkompetenz der deutschen Regierung in der Flüchtlingskrise einstweilen verschont. Allerdings hat man gleichzeitig das Pech, sich gegenüber seinen amerikanischen Zeitgenossen ständig für die deutsche Politik rechtfertigen zu müssen, die aus der Sicht vieler Amerikaner grotesk masochistische Züge trägt. Es bleibt einem in der Regel nichts anderes übrig, als auf die kapriziöse politische Launenhaftigkeit der Frau an der Spitze zu verweisen, von der sich immer weniger Deutsche ernst genommen, geschweige denn vertreten fühlen.
Auch Donald Trump ist das nicht entgangen. In einem Interview mit CBS vergangene Woche hat der republikanische Präsidentschaftskandidat sich über die deutsche Flüchtlingskrise ungewohnt schockiert geäußert. Man wisse ja gar nicht, wer da eigentlich kommt. Merkel habe er bis dato immer für einen ‘‘great leader’’ gehalten, doch sehe er für Deutschlands Zukunft Ausschreitungen (’‘riots’‘) am Horizont aufkommen. Amerika jedenfalls solle sich an einer Aufnahme syrischer Flüchtlinge nicht beteiligen. Nun mag man Trump leicht als politischen Clown abtun, aber seine Popularität beim amerikanischen Volk stammt nicht zuletzt daher, dass er in der Frage der illegalen Einwanderung kein Blatt vor den Mund nimmt. Trump will eine Mauer entlang der Grenze bauen, dafür lieben sie ihn. Trump bedeutet Trumpf.
Und Merkel? Mehr denn je zuvor geriert sie sich als Prophetin der politischen Alternativlosigkeit. Dieser Begriff, der 2010 zum Unwort des Jahres gekührt wurde und mittlerweile einen eigenen Wikipedia-Eintrag besitzt, hätte Niccolò Machiavelli prächtig amüsiert. Der italienische Renaissence-Denker und Staatstheoretiker hatte in seinem berühmten ‘‘Fürst’’ dem florentinischen Herrscher Lorenzo de Medici sowie dem schockierten Bildungsbürgertum seiner Stadt eine Schrift vorgelegt, in der die Verabsolutierung der Souveränität des Fürsten grundsätzlich ohne Rücksicht auf das Wohlergehen – geschweige denn die Wünsche – des Volkes empfohlen wird. Der Fürst, so Machiavelli, muss davon ausgehen, dass alle Menschen schlecht sind – nur so wird er sich erfolgreich an der Spitze seines Staates behaupten können. Falls Gewalt und Betrug diesem Zwecke dienlich sein können, so müssen sie angewandt werden. Machiavelli hat der politischen Alternativlosigkeit nicht ihren Namen gegeben, aber er hat sie erfunden.
Ich weiß nicht, ob Angela Merkel ihren Machiavelli gelesen hat, oder nicht. Aber ihr politisches Können hätte dem Florentiner sicher imponiert. Allenthalben, nicht zuletzt auch im Ausland, wird sie für ihre Kompetenz gelobt. Kompetenz kann jedoch eine sehr kalte Sache sein, wenn sie nicht in grundlegenden politischen und moralischen Prinzipien verankert ist. Nichts lässt Angela Merkels Führugsstil so vermissen wie Prinzipienverhaftetheit. Machiavelli hätte sich daran nicht gestört, sind Prinzipien doch nur störende Hindernisse im politischen Überlebenskampf, in dem sämtliche Waffen erlaubt sein müssen.
Merkels Machiavellismus ist nicht erst in der momentanen Flüchtlingkrise an die Oberfläche getreten. Seit ihrer Übernahme der Kanzlerschaft 2005 hat sie sich mit ihrer erstaunlichen Fähigkeit, innerparteiliche Rivalen wie Friedrich Merz oder Roland Koch aus dem Weg zu räumen, mit wechselnden Mitteln und gleichbleibender Härte einen Namen gemacht. Doch noch beeindruckender ist ihr Agieren auf dem Schachbrett der Parteienpolitik. Indem sie die Union immer mehr in die politische Mitte rückte und den konservativen Flügel praktische einstampfte, hat Merkel ihrer Partei neue Wählerschichten eröffnet. Sie konnte dabei nur gewinnen, denn dieser Kurs zwang die zahlreichen linken Parteien dazu, sich in einem immer intensiveren Wettbewerb um die Stimmen des linken Lagers selbst zu zerfleischen.
Sie hatte nicht zu befürchten, für diese Strategie einen Preis zahlen zu müssen, schließlich hatten konservative Wähler bis zum Aufkommen der AfD wortwörtlich keine Alternative, um ihrem Unmut über den Linkskurs an der Wahlurne Ausdruck zu verleihen. Zwar zeigt ebenjene AfD, dass Merkels Vorgehen durchaus Risiken barg. Dennoch war der Linksruck der Kanzlerin machtstrategisch brillant, weiß doch jeder, der sich in der Berliner Republik einigermaßen auskennt, dass eine jede neue rechte oder konservative Partei sich von den Medien dem Dauervorwurf wird ausgesetzt sehen, insgeheim nationalistische oder gar nationalsozialistische Politik betreiben zu wollen.
Schließlich ist aus dem medialen Kampf gegen Rechts längst auch ein Kampf gegen vollkommen normale, konservative Meinungen geworden, auf deren Basis andere Länder, ohne Aufsehen zu erregen, erfolgreich regiert werden. Beim Kampf gegen alles Konservative ist auf die deutschen Medien Verlass. Es wäre naiv, zu glauben, Merkel wäre dies entgangen. Im Gegenteil, sie hat sich aus dieser Einsicht eine solide politische Machtbasis in der Mitte des deutschen Politikfeldes erstritten, und zwar mit soviel machiavellistischer Tugendhaftigkeit, dass es dem Florentiner glatt die Sprache verschlagen hätte.
Auch die momentane Flüchtlingskrise gibt „Mutti Machiavelli“ Gelegenheit, ihr politisches Können zu zeigen. Durch ihr Beharren auf de facto offenen Grenzen und eine unbegrenzte Aufnahme von potentiell asylqualifizierten Einwanderern kann Merkel sich von aller Welt als humanitäre Geistesgröße feiern lassen, was den ein oder anderen Beobachter bereits zu der Annahme veranlasst hat, Merkel habe ein Auge auf das Amt des UNO-Generalsekretärs geworfen, für das sie sich nun großspurig bewirbt, indem sie eine moralisch vorbildliche Politik auf den Schultern der Bürger betreibt.
Die Opposition hat sie durch diese Politik nachhaltig paralysiert: Einerseits will man die Regierung wie immer kritisieren, um politisch Land zu gewinnen, andererseits kann man eine Politik nur schwer beklagen, wenn sie grundsätzlich den eigenen ideologischen Präferenzen entspricht. Hinzu kommt, dass Merkel hier ebenfalls durch einen Linkskurs punkten kann, während sämtliche Mahnungen bezüglich der Qualität und Quantität der neuen Einwandung dem Vorwurf der Deutschtümelei ausgesetzt sind. Auch hier hilft die Linkslastigkeit der deutschen Medienlandschaft enorm, insbesondere des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Dass Merkel der Bevölkerung einen Grenzzaun verwehrt, da dieser nicht hilfreich sei, während ihr eigenes Kanzleramt von einem Zaun geschützt wird, verlangt eine gewisse Chutzpe – Machiavelli hätte dies gut gefallen.
Einer der zentralen Ratschläge, die der Florentiner seinem Fürsten gibt, ist die Notwendigkeit, vom Volke nicht gehasst zu werden, da das Volk, verglichen mit der aristokratischen Schicht, im Zweifelsfall die größere Gefahr für die Sicherheit der fürstlichen Ordnung ist. Er begründet diese Empfehlung nicht etwa mit der Wichtigkeit des Wohlergehens des Volkes als Selbstzweck, sondern mit dem Verweis auf potentielle Verschwörungen gegen den Fürsten, die umso zahlreicher und erfolgsversprechender sein werden, je größer der Hass auf ihn im Volke.
Während Machiavelli empfiehlt, dem Volkszorn insbesondere dadurch zu entgehen, dass man die Finger von dem Eigentum und den Frauen seiner Untertanen lässt, so hat Angela Merkel eine andere, ganz eigene Strategie entwickelt, um gegen sie gerichtetem, populärem Hass zu entgehen. Sie erreicht dies durch eine Praxis, die mittlerweile unter dem Verb ‘‘merkeln’’ subsumiert wird, nämlich die abwartende Untätigkeit, die Weigerung sich zu neu aufkommenden politischen Fragen zu positionieren, und zwar genau so lange, bis sich eine Meinung gesellschaftlich und medial durchgesetzt hat, welche man dann elegant übernimmt. Durch diesen brillanten Schachzug hat es Merkel stets verstanden, Kontroversen zu vermeiden und Harmonie zu erhalten. Ihre traditionell hohen Umfragewerte sind auch ein Resultat dieser Hinhalte-Taktik.
Die jetzige Flüchtlingskrise birgt allerdings die Gefahr, dass Merkel den Bogen diesmal überspannt hat. Unkontrollierte, und vor allem vollkommen unvermittelte, illegale Einwanderung ist die leichteste Art, den Volkszorn zum Kochen zu bringen, und man kann heute glaubhaft darüber spekulieren, dass in der Unionsfraktion die Messer bereits gewetzt werden. Dies wäre noch vor einem Jahr absolut undenkbar gewesen – selbst aufgrund der Eurokrise hat man Merkels Führungsposition nie in Frage gestellt. Da aber die Wut in der Bevölkerung mittlerweile und zunehmend auch auf Merkel gerichtet ist, wird eine innerkoalitionäre ‘‘Verschwörung,’’ wie von Machiavelli beschrieben, immer wahrscheinlicher. Es rumort im Fürstentum. Möglicherweise hat Mutti Machiavelli bald ausgemerkelt.
Moritz Muecke studiert Politik an der Graduiertenschule des Hillsdale College in Michigan. 2015 ist er ein Publius Fellow am Claremont Institute.