Die Villa Stuck in München zeigt gerade eine schöne Ausstellung des kubanischen Künstlers Carlos Garaicoas, geboren 1967. Fast alle seine Arbeiten besitzen politischen Witz, vor allem seine Serie sehr kleiner detaillierter Metallmodelle von Gebäuden, zusammengefasst unter dem Titel „Die Kronjuwelen“. Zwei der polierten Repliken, die bequem auf eine Handfläche passen, stellen je einen zentralen Bau der kubanischen Staatssicherheit dar, eine die Lubjanka in Moskau, und ein Modell: die frühere Staatssicherheitszentrale in der Berliner Normannenstraße.
Es handelt sich nicht um Vergangenheit, sagt Garaicoa mit dieser Arbeit. Das Prinzip des Geheimdienstes als staatserhaltendes Kronjuwel existiert anderswo noch. Und in Deutschland west seine Hinterlassenschaft als toxischer Sondermüll weiter. Je länger die Erstürmung der MfS-Zentrale im Dezember 1989 zurückliegt, desto mehr wendet sich das öffentliche Interesse dem Anekdotischen und Pittoresken zu. Wenn es mittlerweile eine grundsätzliche Übereinkunft gibt, zumindest im Westen, dann die: die Stasi war eine Angelegenheit der Ostdeutschen. Ihr Erbe soll die Bundesrepublik nicht kontaminieren.
In ihrem Roman „Ab heute heiße ich Margo“* demoliert Cora Stephan dieses Bild gründlich, und zwar auf doppelte Weise. Erstens, indem sie die Karriere einer MfS-Mitarbeiterin beschreibt, eine ihrer beiden Heldinnen, und damit der Frage nachgeht: wie kam jemand in diese Organisation? Die Geschichte der tüchtigen Geheimdienstlerin Helene ist jedenfalls keine DDR-Biografie, sie beginnt deutlich früher. Die in der Nazizeit im KZ inhaftierte Helene konspiriert in Buchenwald mit der kommunistischen Lagerleitung, und gerät so in die Vorläuferorganisationen des Ministeriums für Staatssicherheit, allerdings nicht zu den Mielke-Leuten, sondern zu den Kadern der späteren Auslandsabteilung, die Hauptverwaltung A. Als „Kundschafterin des Friedens“ erhält sie den Auftrag, die titelgebende Heldin Margo, die im Westen in einem auf Datenverarbeitung spezialisierten Unternehmen Karriere gemacht hat, zur Industriespionage zu bewegen. Helene arbeitet mit Erpressung, Raffinesse und Versprechen – und mit dem Zauberwort „Frieden“. Den wünschen schließlich alle. Margo lässt sich nicht lange überreden, für die DDR zu spionieren.
Sie redet sich ein, der guten Sache zu dienen
Für viele Leser dürfte die Verstörung des Romans darin liegen, dass die westdeutsche Margo ihre heimliche Arbeit für sich kaum anders rechtfertigt als die allermeisten Zuträger in der DDR. Sie redet sich ein, der guten Sache zu dienen, dem Frieden und der Völkerfreundschaft. Und irgendwann glaubt sie ihrer Legende.
Margos und Helenes Geschichte beginnt 1936, und beide verbindet von Anfang an etwas: Ziemlich zeituntypisch beschließen beide, ihr Leben so weit wie möglich selbst zu steuern, und sich von keinem Mann abhängig zu machen. Trotzdem – kein persönlicher Zug bleibt ohne dialektischen Haken – verlieben sie sich in denselben Mann. Beide Frauen arbeiten zusammen in einem Fotogeschäft in Stendal, die politisch interessierte Fotografin und die unpolitische, privat umso ehrgeizigere Buchhalterin Margo. Helene war zuvor als Fotoreporterin im spanischen Bürgerkrieg zwischen die Fronten geraten und überlebte nur knapp. 1941 als als Asoziale von der Gestapo verhaftet, kommt sie nach Buchenwald – und dort ins Lagerbordell. Margo wiederum verliert im Chaos der letzten Kriegstage ihre kleine Tochter. Sie glaubt, dass Helene ihr helfen kann, das Kind wiederzufinden.
In Stephans Roman kehrt das Motiv der Druckausübung, des Pfandes, des Verrats unter immer neuen Umständen zurück. Helene, die Intelligentere der beiden, beherrscht das Spiel exzellent. Mit einer Mischung aus Drohung und Versprechen macht sie Margo zur Nachrichtenübermittlerin. Und Margo lässt sich auf den Handel ein: „Im Grunde war das, was von ihr erwartet wurde, nicht viel verlangt für das, was Helene für sie getan hatte, redete sich Margo ein und packte die pfundschwere Bedienungsanleitung für ihr Allerheiligstes, das IBM-System, in ihre Aktentasche. Jeder konnte darin lesen, der die technischen Termini verstand, wo lag also das Problem?“
Die Geschichte einer deutschen Kontinuität
Institutionen lösen sich bei Stephan zu einzelnen Personen auf; Personen handeln nach Motiven. Und sie verdrängen. Als Margos Kontaktmann im Westen auffliegt, lange nach ihrer letzten Lieferung, heißt es: „Sie hatte beinahe vergessen, dass sie wirklich und wahrhaftig eine Spionin gewesen war.“ Mit anderen Worten: Ihre Verdrängungsfähigkeit ist um keinen Deut schlechter ausgebildet als die von hunderttausenden Inoffiziellen Mitarbeitern in der DDR, die den Geheimdienst mit Wichtigem oder Banalem fütterten, aus Überzeugung oder privatem Kalkül. „Margo“ ist ein Entwicklungsroman, ein Spionageschichte, vor allem aber die Geschichte einer deutschen Kontinuität über die vermeintlichen Bruchlinien 1945 und West/Ost hinweg.
Am Ende des Romans erlebt Helene 1989 den Sturm der Demonstranten auf das MfS-Gebäude in der Normannenstraße, nicht ohne Befriedigung, denn - wie gesagt - keine der Hauptfiguren bleibt ohne Ambivalenz.
In dem Moment, als der Geheimdienst und der dazugehörige Staat zerfallen, bleiben Figuren übrig, die sich fragen, welche Macht da eigentlich über Jahrzehnte an ihnen und ihrem Leben zerrte. Der frühere Apparat erscheint heute in der öffentlichen Debatte als Abstraktum. Von ihm bleiben Akten übrig, Strukturen, und ein Gebäudemodell wie das von Carlos Garaicoa, das sich bequem in die Hosentasche stecken lässt.
Cora Stephans Roman erzählt davon, wie ein solcher Apparat mächtig wird: indem er sich Menschen und deren ganz private Motive einverleibt.
*Cora Stephan „Ab heute heiße ich Margo“, Kiepenheuer & Witsch
Von Alexander Wendt erschien zuletzt „Du Miststück. Meine Depression und ich“ (S.Fischer) Mehr auf www.alexander-wendt.com