Beda M. Stadler, Gastautor / 02.02.2009 / 23:31 / 0 / Seite ausdrucken

Echte und modische Allergien

Allergien scheinen zu grassieren. Kaum einer, der sich nicht damit brüstet, gegen irgendetwas allergisch zu sein. Zum Wunsch, gesund sterben zu wollen, kommt die Einsicht, an etwas leiden zu müssen, was aber höchst selten jemanden umbringt. Mit einer Allergie lässt sich oft gut leben. Vor Gesundheit strotzende Menschen haben schliesslich etwas Arrogantes.
Eine Zeitlang schien es, der Übeltäter, der uns mit Allergien bedroht, könnte gefasst sein. Man glaubte, es sei die Umweltverschmutzung. Allergologen stürzten sich auf die Umwelthypothese. Eine Münchner Kollegin schrieb eine aufsehenerregende Arbeit, in der sie nach dem Berliner Mauerfall die Allergiehäufigkeit bei Ossis und Wessis untersuchte. Man vermutete, die armen Ossis hätten derart unter rauchenden Kaminschloten, giftigen Trabi-Auspuffen, Kohleheizungen und allen anderen kommunistischen Errungenschaften gelitten, dass sie nur so von Allergien strotzen müssten. Herausgekommen ist das Gegenteil: Die Wessis hatten mehr Allergien.
Weltweit bestätigten seither Wissenschaftler, dass selbst in Neuseeland, wo die Luft kristallklar ist, Allergien am Zunehmen sind und dass selbst die Einwohner von Moskau im Vergleich zu uns Mitteleuropäern wesentlich weniger Allergien haben. Seither sucht man nach neuen Übeltätern und nach neuen Hypothesen, wobei bis heute niemand erklären kann, warum es zu einer Zunahme vor allem von sogenannten Inhalationsallergien gekommen ist. Wen erstaunt es noch, dass neuerdings einige Allergologen behaupten, die Allergienzunahme sei eine Folge der Klimaerwärmung? Persönlich warte ich darauf, dass ein Kollege behauptet, die Dinosaurier seien wegen Allergien ausgestorben, weil es damals so schön warm war. Der Gipfel aller Verschwörungstheorien ist allerdings die Behauptung, gentechnisch veränderte Nahrungsmittel würden vermehrt zu Allergien führen.
Simulanten auf der Spur
Möglicherweise wurde die Häufigkeit der Allergien überschätzt. Ein Problem könnte darin bestehen, dass den Allergologen Labortests zur Verfügung stehen, die sehr empfindlich feststellen, ob jemand auf einen allergenen Stoff sensibilisiert ist. Das heisst aber nicht, dass er deswegen Symptome hat.
Ein anderes Problem besteht darin, dass selbst ein Allergologe oft nicht unterscheiden kann, ob sein Patient nun ein echter Allergiker oder bloss ein cleverer Simulant ist. Da eine Allergie eine Krankheit ist, für die man sich nicht schämen muss, wird sie gerne missbraucht. Oft tun Mitmenschen dies unbewusst. Hasst jemand Knoblauch, kann er behaupten, allergisch zu sein. Eine liebe Freundin weist mich jeweils darauf hin (nachdem ich gekocht habe), allergisch gegen Petersilie zu sein. Wäre dem so, würde sie wahrscheinlich ebenfalls mit Sellerie, Kamille, Karotte, Anis, Dill, Koriander, Fenchel, Kümmel und Sonnenblumenkernen ein Problem haben: Mehr als 95 Prozent der über tausend allergenen Stoffe sind heute bekannt und charakterisiert. Diese kann man aber auf rund hundert allergene Strukturen, die vom menschlichen Immunsystem erkannt werden, zusammenfassen. Da verschiedene Delikatessen etwas Petersilie benötigen und man dieses Kraut aus Sauce, Suppe oder Terrine nicht mehr herauskriegt, lüge ich sie jedes Mal an. In all den Jahren ist sie nach meinen Kochkünsten stets symptomfrei geblieben.
Hier ein paar Merkmale für den Eigen- und Hausgebrauch, wie man diese Simulanten entlarven kann: Betritt ein Katzenallergiker Ihre Wohnung und beklagt sich sogleich über eine rinnende Nase, brennende Augen oder gar Atembeschwerden, kündigen Sie ihm die Freundschaft. Er hat bloss den Schwanz Ihrer Katze unter dem Sofa gesehen. Bei einer echten allergischen Reaktion braucht es mindestens zehn bis zwanzig Minuten, bis Symptome auftreten. So lange dauert es, bis die Allergene in den Katzenhaaren via Lunge oder andere Eintrittsstellen in den Körper gelangt sind und dort jene Zellen anregen, welche die Substanzen ausschütten, die zu den typischen allergischen Symptomen führen. Simulanten schaffen dies aber alleine mit ihrem Gehirn, was auch bestens erforscht ist. Die gleichen Zellen, die auf Allergene reagieren, können mit Gehirnsignalen stimuliert werden. Bereits im neunzehnten Jahrhundert hat ein französischer Professor so seine Studenten verblüfft, als eine vermeintliche Rosenallergikerin im Vorlesungssaal wegen einer Rose aus Pappmaché von der Schiessbude einen Asthmaanfall produzierte. Kinder, die diesen Trick raushaben, terrorisieren ihre Eltern gerne mit ebensolchen Anfällen. Auch Erwachsene unterliegen manchmal der Versuchung, zu derartigen Sozialterroristen zu werden. Wie oft liefert der Sport das schlechte Vorbild: Unter Spitzensportlern finden sich überproportional viele Asthmatiker, die zum Siegen den Lungenspray brauchen.
Das Paradebeispiel für den allergischen Sozialterrorismus ist der Gast mit Nussallergie im mondänen Restaurant. Normalerweise würde diese graue Maus von niemandem beachtet werden, da aber ihr Leben auf dem Spiel steht, muss der Küchenchef am Tisch antraben, damit nirgendwo auch nur die Spur eines Nüsschens vorhanden sein wird. Eine Nussallergie verleiht das Recht, das Menü inklusive Sitzordnung im Restaurant zu verändern. Der Simulant erhält ungeteilte Aufmerksamkeit und kriegt obendrein das Mitgefühl oder gar die Liebe und Barmherzigkeit aller Anwesenden. Hätte die graue Maus eine richtige Krankheit, zum Beispiel Hämorrhoiden, würde ihr der gleiche Trick im Restaurant buchstäblich in die Hosen gehen.
Es gibt sie doch
Selbstverständlich gibt es echte Allergiker. Sie leiden, und einige sind tatsächlich vom Tod bedroht, falls ihre Sensibilisierung weit fortgeschritten ist. Es sterben in der Schweiz leider Allergiker an Bienenstichen, aber meines Wissens ist bei uns noch nie jemand an einer Erdnuss gestorben (ausser Kleinkinder, die daran ersticken, weil die Nuss genau in ihre Luftröhre passt). Selbst in Amerika, wo tonnenweise Erdnussbutter verzehrt wird, sind fatale Folgen der Erdnussallergie selten. Trotzdem haben amerikanische Fluggesellschaften die Erdnüsse von Bord verbannt. Welch ein Witz! Als ob amerikanische Flugreisen sicherer als das Knabbern von Erdnüssen wären.
Ein weiteres Problem der Allergieeuphorie besteht darin, dass der Volksmund jegliche Art von Überempfindlichkeit als Allergie bezeichnet. Nahrungsmittelintoleranzen sind keine echten Allergien, aber sie können zu ähnlichen Symptomen führen. Wer eine Laktoseintoleranz hat, der muss Milchprodukte meiden. Das Gleiche gilt für die Gluten- oder Sucroseintoleranzen bis hin zu Intoleranzen gegen Medikamente wie Aspirin. Weil bei diesen Intoleranzen das Meiden des verursachenden Stoffs zur Symptomfreiheit führt, galt dies jahrelang auch als Dogma für die echten Allergiker. Die Allergologen haben ihren Patienten ausnahmslos geraten, dem Allergen aus dem Weg zu gehen. Manch einer hat sich darauf ein Auto mit Pollenfalle angeschafft und sein Domizil in eine Pollenfestung verwandelt, damit er dann zwischen Haustüre und parkiertem Auto genau diejenige Menge Pollen abkriegt, um sich weiter zu sensibilisieren. Da jeder von uns die letzte Nacht mit Hausstaubmilben im Bett verbracht hat, ist es für andere allergene Stoffe ebenso nicht möglich, ihnen wirklich aus dem Weg zu gehen. Vielleicht war der ärztliche Ratschlag, das Allergen zu meiden, nicht besonders intelligent, und man hätte den Patienten beim Auftreten der ersten Symptome eher raten sollen, vermehrt Kontakt zu suchen. Während des letzten Weltkrieges gab es offensichtlich keine Kartoffelallergiker, und solange Reis in Japan das fast ausschliessliche Grundnahrungsmittel war, gab es dort keine Reisallergiker. Bei einem Kind, das früher Kuhmilch nicht vertrug und deswegen schrie, tröstete man sich damit, dass es wenigstens starke Lungen bekommen würde. Die Mütter rannten deswegen nicht gleich zum Pädiater, der das arme Baby auf Sojamilch umstellte, damit es später eine Sojaallergie entwickelte.
Diese Einsicht scheint nun langsam auch unter Allergologen Oberhand zu gewinnen. Mein Kollege Thomas E. Platts-Mills, eine Allergologenkapazität aus Charlottesville, Virginia, ist jahrelang an Wissenschaftskongresse getingelt und hat gepredigt, man solle Katzen baden. Bei Allergien gegen Haustiere ist die Compliance der Patienten besonders schlecht, also kam er auf diese abstruse Idee, bei der ich immer zwischen Abscheu vor dieser Tierquälerei und der Ulkigkeit einer nassen Katze hin- und hergerissen war. Platts-Mills, bekannt für seinen britischen Humor, hat seine Patienten in den letzten Jahren etwas genauer angeschaut, und zwar vor allem jene, die eben nicht nur eine Katze, sondern mehrere Katzen oder Hunde hatten. Er musste feststellen, dass es diesen eigentlich besser ging, worauf er konvertierte und nun den Katzenallergikern rät, sich nicht nur eine, sondern gleich mehrere Katzen anzuschaffen. Jüngere Allergologen folgen langsam dieser Einsicht, die unter Immunologen längst eine Binsenwahrheit war: Die Patienten müssen eine immunologische Toleranz entwickeln.
Das massenhafte Auftreten von Allergikern liegt womöglich daran, dass kein Interesse besteht, die Häufigkeit auf ein vernünftiges Mass zu reduzieren. Allergologen und Hausärzte sind einem Gewissenskonflikt ausgesetzt. Ihnen kann es egal sein, ob der Patient ein echter Allergiker oder nur ein Simulant ist. Dem echten Allergiker kann er zwar mit Medikamenten und Therapien helfen, dem Simulanten nicht. Aber er verdient mehr an ihm bis er zur Alternativmedizin wechselt. Genau dies tun die Simulanten früher oder später mit dem Argument, die Schulmedizin habe nicht geholfen. Im Schosse der Irrationalität nützen dann die abstrusesten Therapien wie etwa Bioresonanz, eine Art technischer Voodoo, oder sie schlucken Similasan und merken gar nicht, dass der Hersteller sich über sie lustig macht, da das Wort «Simulant» im Medikamentennamen steckt. Ich gebe zu, bei diesen Pseudoallergikern wirkt die Alternativmedizin, weil eine Einbildung mit jedem beliebigen Wässerchen therapierbar ist.

Zuerst erschienen in Die Weltwoche 28.01.2009, Ausgabe 05/2009

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