Gunnar Heinsohn / 10.06.2018 / 18:00 / 12 / Seite ausdrucken

Dreißigjähriger Krieg auf immer unbegreifbar?

Herausragende Autoren widmen dem Dreißigjährigen Krieg zu seinem 400. Startjubiläum einmal mehr imponierende Analysen mit bedrückenden Schilderungen und vielfältigen Reflexionen. Und doch bleiben seine Hauptmerkmale so ungeklärt wie schon bei Friedrich Schiller, der 1792 die erste umfassende Darstellung dieses Völkerringens vorlegte.

Das größte Rätsel bleiben die von der Landbevölkerung lebenden und raubenden Soldaten, die nicht einmal zur Erntezeit auf die heimischen Höfe zurückkehren. Kaum weniger dunkel wirkt die lange Dauer des Krieges, obwohl angesichts stetig hoher Verluste doch eine schnelle Erschöpfung hätte eintreten müssen. Schließlich macht fassungslos, dass Deutschlands Bevölkerung mindestens um ein Viertel, wenn nicht gar um ein Drittel von 18 auf 12 Millionen Menschen abstürzt. Das wird zwar wortreich beklagt, bleibt aber so undurchschaubar, dass selbst Oxfords Peter H. Wilson, nach 1.168 Seiten seines Opus Der Dreißigjährige Krieg, nur konstatieren kann, dass „der Krieg im Grunde unnötig war.“ (Junge Freiheit, 18. Mai 2018, S. 3)

Für Herfried Münkler lässt sich, nach 976 Seiten eines Werkes mit gleichem Titel, immer noch „nicht entscheiden, ob es in diesem Krieg wesentlich um Religions- oder um Machtfragen ging“. Erschütternd bleibe in jedem Fall, dass „sich die Zahl der Kriegstoten zu einer demografischen Katastrophe“ ausgewachsen habe.

Auch Kriegstote beginnen als Neugeborene. Gibt es womöglich zu ihnen ungewöhnliche Befunde, die Licht auf die Millionen Opfer werfen können? Einschlägig dafür ist die so genannte Europäische Bevölkerungsexplosion, deren Grund nicht gut verstanden, deren Beginn aber in das Jahrzehnt um 1490 datiert wird. Gibt es beispielsweise in England zwischen 1416 und 1440 auf 769 sterbende Väter 620 nachwachsende Söhne, so kommen zwischen 1491 und 1505 auf 673 Verstorbene 1359 junge Männer. (J. Hatcher, Plague, Population and the English Economy 1348-1530, London 1977, S. 27). Im Heiligen Römischen Reich schnellt die Bevölkerung zwischen 1500 und 1618 von rund 12.5 auf 18 Millionen.

In diesem Anstieg stecken die mysteriösen Soldaten, die über „Sieg oder Heldentod“ (Thomas Hobbes) etwas werden, also aus dem Kriegsgebiet leben oder sterben müssen, weil sie als nichterbende Brüder auf den väterlichen Höfen kein Auskommen mehr finden. 

Wann die Bereitschaft zum Heroismus erlischt

Das Reich steht nach den 30 Jahren demografisch nicht schlechter da als zu Beginn der Bevölkerungsexplosion und kann noch bis ins 20. Jahrhundert Verluste absorbieren. Schon 1700 prunkt es mit 21 und 1750 gar mit 23 Millionen Menschen. Ähnlich geht es in ganz Europa voran. Damit steht das Personal für den Siebenjährigen Krieg (1754-1763) zu Verfügung, der mit allem Recht als wahrer erster Weltkrieg bezeichnet wird, weil er nicht nur in Europa, sondern auch in Indien, der Karibik und Nordamerika ausgefochten wird. Unsere Gelehrten hätten das sehen können, wenn sie die Bevölkerungsentwicklung nicht nur durch den Krieg, sondern auch davor und danach angeschaut hätten. 

Auf einer Langtrendkurve hinterlässt der Dreißigjährige Krieg also nur eine schnell ausgewetzte Delle. Er erweist sich als nur eine von vielen Gewaltaktionen, deren Sinn darin besteht, zumindest temporär Gleichgewicht zwischen Ambitionen und verfügbaren Positionen herbeizuführen. Sie setzen sich fort, solange überzähliges Personal nachwächst. Die absolute Menschenzahl mag zwischenzeitlich fallen, weil Alte und Schwache verhungern, während die jungen Starken sogar zahlreicher werden. 

Obwohl Europas Verluste durch Kriege, Seuchen und Abwanderungen in die Kolonien immer nur steigen, erreicht es – nach 50 Millionen Einwohnern 1500 – im Jahr 1915 eine halbe Milliarde Menschen. Was oben wegfällt, wird von unten reichlich ausgeglichen, weil die Kinderzahlen pro Frauenleben bis 1915 nicht signifikant fallen. Erst aufgrund immer höherer Bevölkerungsanteile in der lebenslangen Arbeitsmarktkonkurrenz geht es dann herunter, bis in den späten 1960er Jahren die Parole Make love not babys endgültig die Oberhand gewinnt. Nach vier bis sechs Kindern pro Frau um 1870 sind es heute nur noch eins bis zwei. Kann die Alte Welt zwischen 1914 und 1945 rund 24 Millionen junge Männer verheizen, wird jetzt mit jedem Gefallenen eine Familienlinie ausgelöscht. Deshalb erlischt die Bereitschaft zum Heroismus.

Wo man sich aber aktuell so tüchtig vermehrt wie damals die Europäer, gehen auch die langjährigen Kämpfe weiter. Afghanistans Krieg wird 2019 vierzig Jahre alt. Ungeachtet der Verluste von fast drei Millionen Menschen springt die Bevölkerung gleichzeitig von 13 auf 37 Millionen. Bei einem durchgehenden Kriegsindex zwischen 5 und 6 folgen auf tausend 55-59-jährige Alte fünf- bis sechstausend zornige junge Männer zwischen 15 und 19 Jahren. (Security Perspectives of Demographic Trends, G. Heinsohn, 28. Mai 2018, NATO Defense College, Rom) Ein friedlicher Ausgleich zwischen Nachdrängenden und Karrieren bleibt unmöglich. Das war damals kaum anders. Insofern muss der demografische Blick auf gegenwärtige Kriege beim Studium von vergangenen nicht von Nachteil sein.

Gunnar Heinsohn (*1943) lehrt seit 2012 Kriegsdemografie am NATO Defense College in Rom.

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Jochen Lindt / 10.06.2018

Sieg oder Heldentod stimmt nicht ganz.  Die überflüssigen jungen Männer der Dritten Welt können heutzutage auch im europäischen - sprich deutschen- Sozialsystem angesiedelt werden.  Der ewige Krieg der islamischen Welt hat also auch seine Vorteile.  Je härter er ist, desto höher ist das Siedlungsrecht (“Asylrecht”) der Kolonisten.  Wenn es den Krieg nicht gäbe, dann fehlt diesen jungen Männern die Flüchtlingseigenschaft.

Alexander Mazurek / 10.06.2018

Ach nee, der Dreißigjährige Krieg hat ca. 30% der betroffenen Bevölkerung auf dem Gewissen. Fakt. Warum? Da scheiden sich die Geister. Die einen meinen, wegen des theologischen Fortschritts des Dr. Martin Luther. Die anderen meinen, wegen der Machtsucht der deutschen Fürsten und der Beute, der Aneignung des Vermögens der Katholischen Kirche und deren Autorität. Richtig. Sowohl als auch. Luthers theologischer “Fortschritt” bestand in der Entkopplung des Glaubens von der Tat. Sein “hier stehe ich und kann nicht anders” verhalf deutschen Fürsten zu Vermögen und Meinungsmacht: Die Fürsten oben auf der Empore, der Pfaffe auf der Kanzel und das Volk buckelnd unten. Wie im Kalifat. Wenn wir beim Niedergang der Zivilisation sind, ist dies wichtig, waren die Opfer dessen “wert”. Auch weil, später, ein Dr. Martin Luther Mitunterzeichner des Protokolls der Wannsee-Konferenz war. Zufall? Mitnichten. Und auch heute gibt es Weltverbesserer, die nicht anders können und die Nächstenliebe der Fernstenliebe opfern, in pursuit of happiness (or prey)? Nur Müll und tote Fische schwimmen mit dem Strom, G. K. Chesterton.

Martin Schott / 10.06.2018

Das rasante Bevölkerungswachstum in Deutschland bis ins Jahr 1915 führte schließlich zu der These vom “Volk ohne Raum”, was wiederum Hitlers Motivation für die schon in “Mein Kampf” anvisierte Gewinnung von “Lebensraum” im Osten war. Hätte sich die demographische Entwicklung Deutschlands nach 1915 nicht umgekehrt, würden sich heute auf dem ehemaligen Reichsgebiet über 300 Millionen Deutsche drängen. Ich wage zu bezweifeln, dass unter diesen Umständen die Beziehungen zwischen Deutschland und seinen Nachbarn Frankreich und Polen so friedvoll und entspannt wären, wie sie es heute sind.

Wolfgang Kaufmann / 10.06.2018

Wir sterben zwar aus, haben dabei aber den höchstmöglichen sexuellen Spaß. Ist das weltgeschichtlich Fortschritt oder Abweg, revolutionäre Befreiung oder asozialer Egoismus? In 30 Jahren, zum Jubiläum von 1648, werden unsere (?) Kinder sehen, was daraus geworden ist. Immer deutlicher bewahrheitet sich Westerwelles Wort von der spätrömischen Dekadenz.

Gottfried Meier / 10.06.2018

Dass das rasante Bevölkerungswachstum das Grundübel unserer Probleme mit der Masseneinwanderung ist, müsste eigentlich jeder mit ein bißchen Nachdenken erkennen. Wenn es immer heißt, wir müssten die Fluchtursachen bekämpfen, dann frage ich mir schon, wie wir das anstellen sollen.

Anders Dairie / 10.06.2018

Ungehemmte Vermehrung und tiefe Frömmigkeit sind der Kern der Kampffähigkeit. Da wir keine Frömmigkeit mehr kennen,  die Wissenschaft hat den Glauben verdrängt,  kennen wir die Dynamik nicht mehr,  die sich in den Köpfen entfalten kann.  Körper und Geist machen den Menschen.  Wer in Afghanistan den Krieg beenden will, muss die Bevölkerung so “hart rannehmen”,  wie einst die Mongolen im 13. Jahrhundert.  Also die Jungen kampfunfähig machen.  Das würde heute Massenmord heissen.  Das ist zumindest in Europa nicht vermittelbar.  Noch nicht !  Amerika hat es im Krieg gegen Japan bereits getan , im August 1945. Es ist unter ähnlichen Bedingungen erneut möglich.

Detlef Dechant / 10.06.2018

Es ist keine neue Erkenntnis, dass die Bereitschaft, Kriege zu führen, korreliert mit der Anzahl wehrfähiger junger Männer. Welche Eltern sind schon bereit, ihren einzigen Sohn für “König und Vaterland ” herzuschenken? Auch der behütet aufgewachsene einzige Sohn wird wenig Lust haben auf militärische Abenteuer, wie ja auch der Rückgang der Bereitschaft zum Wehrdienst gezeigt hat. Das is bei Jungs, die sich in Familie, Schule und Freizeit immer wieder behaupten mussten ein wenig anders ausgeprägt.

Martin Wessner / 10.06.2018

Letzlich lassen sich auch die Raubzüge der Wikinger, und sogar die Gründung der christlichen Kirche auf den Youth Bulge zurückführen. Jesus und seine Jünger waren jung, ledig, prekär beschäftigt und wollten vorallem eins, nämlich Karriere machen. Was lag also näher als eine Armee des Heils zu gründen, für deren Ziele -aufgrund der eigenen Position des gegenüber der römischen Besatzungsmacht militärisch hoffnungslos unterlegenen Gegners- man nicht andere überschüssige Rivalen, sondern sich selbst pazifistisch aufopferte, um so ein Gleichgewicht zwischen Ambitionen und Positionen herbeizuführen? Ist schliesslich auch eine Art von Heroismus, das konsequente “zweite Backe hinhalten”. (Siehe auch Mahatma Gandhi ) Richtig, Herr Prof. Heinsohn?

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