Gastautor / 26.11.2016 / 06:10 / Foto: D J Shin / 9 / Seite ausdrucken

Die Digitalisierung und Merkel 4.0

Von Christian Sell.

Ich habe hier einige der meist verbreiteten Mythen aufgeführt, die im Zusammenhang mit der Fortentwicklung der Informationstechnologie immer wieder rezitiert werden, und die es allemal verdienen, kritisch hinterfragt zu werden.  

Die meisten von uns wissen, dass die Entwicklung der Computertechnologie in den vergangenen Jahrzehnten rasant vorangeschritten ist. Viele von uns sitzen schon seit langem an Bildschirmarbeitsplätzen, 12-jährige tragen heute Smartphones in ihren Taschen, deren Rechenkapazität vor 20 Jahren ein Gehäuse von der Größe eines Linienbusses gebraucht hätte.

Viele von uns haben auch die Bilder aus den modernen Autofabriken vor Augen, in denen schon heute erhebliche Teile der Produktionsprozesse von Robotern abgewickelt werden. Wir sehen z.B. Roboterarme, die mit hektischen Bewegungen über die Verwinkelungen einer Karosserie fahren und dabei mit maschineller Präzision Lack auftragen.

Mancher hat, auf der einen oder anderen Seite des Skalpells oder des Analyse-Bildschirms, erlebt, wie die moderne Medizin von den neuen Möglichkeiten Gebrauch macht.

Während wir all diese Dinge zunehmend als selbstverständlich erleben, lassen wir uns heute von verschiedenen Instanzen das Bild einer bevorstehenden Digitalisierung vor Augen malen, die Tausende Arbeitsplätze vernichten und große Umwälzungen mit sich bringen wird. Nicht nur die Kanzlerin hat sich in dieser Hinsicht mehrfach geäußert; selbst Siemens-Chef Joe Käser hat sich erst unlängst dazu verstiegen, mit Blick auf diese Entwicklung das bedingungslose Grundeinkommen zu fordern. Von manchen Auguren werden sogenannte “disruptive” Entwicklungssprünge prognostiziert, die unsere Gesellschaft und Wirtschaft grundlegend umkrempeln werden.

Der Fortschritt könnte sich durchaus verlangsamen

Hält man die bisherige Entwicklung gegen diese steilen Prognosen, dann stellt sich schnell das Bewußtsein ein, dass möglicherweise auch hier das Sprichwort gilt, wonach nicht alles so heiß gegessen wird wie es gekocht wurde. Zugegeben, der bisherige Fortschritt der Computertechnologie war spektakulär. Fast 20 Jahre haben wir die Erfüllung von “Moore’s Law” erlebt, dem zufolge alle 12-14 Monate eine Verdoppelung der Leistungsfähigkeit von Computern (genau genommen der Integrationsdichte der Schaltkreise auf Prozessor-Chips) stattfinden werde.

Und dennoch: wenn wir aus dem Fenster schauen, sehen wir, dass die damit verbundene Umwälzung (neudeutsch “Disruption”) in sehr gemäßigten, ja kaum wahrnehmbaren Bahnen verlaufen ist. Der Verlust an Arbeitsplätzen durch die bisher erfolgte Digitalisierung lässt sich kaum mit dem vergleichen, was zu Beginn der Industrialisierung Ende des 19. Und Anfang des 20. Jahrhunderts stattfand. Und die Tatsache, dass für die Silizium-basierte Computertechnik die Grenzen des physikalisch Möglichen bald erreicht sind, lässt vermuten, dass sich der weitere Fortschritt bis zur Erfindung vollkommen neuer Prinzipien durchaus verlangsamen könnte. Die Tatsache, dass es heute kein einziges Computerprogramm gibt, dem auch nur entfernt das Attribut “Intelligenz” zugeschrieben werden kann, wollen wir hier nur erwähnen und nicht weiter vertiefen.

Interessant ist an dieser Stelle auch, festzuhalten, dass der Begriff “Industrie 4.0” außerhalb des deutschen Sprachraums keine Bedeutung hat. Im englischsprachigen Raum, der immerhin stets der Vorreiter in Sachen Computertechnik war und ist, diskutiert man als neuesten Trend allenfalls das sogenannte “Internet of Things”, ist sich dabei aber keineswegs im Klaren, was genau der Inhalt oder der Nutzen dieser Entwicklung sein soll. Von einem Quantensprung in der industriellen Anwendung der Computertechnik, wie er durch den Begriff “Industrie 4.0” suggeriert wird, redet außerhalb Deutschlands niemand. Und auch in Deutschland ist der Begriff bezeichnenderweise nicht etwa in Expertenkreisen geprägt worden, sondern es handelt sich - man staune - um eine Wortschöpfung der Berliner Ministerialbürokratie.

Industrie 4.0 erinnert an die Modebegriffe früherer Jahrzehnte

Der Computerindustrie ist es nicht zu verdenken, dass sie gerne auf den vom Bund auf die Gleise gesetzten Zug aufspringt - schließlich locken fette Gewinne durch staatliche Förderprogramme und Aufträge der öffentlichen Hand. Aber was auch immer die Motive bei der Einführung der Begriffe “Digitalisierung” und “Industrie 4.0” gewesen sein mögen: Aus technischer Sicht ist nichts am Horizont zu erkennen, was darauf hinweisen würde, dass diese Termini einen anderen Weg gehen werden als die Modebegriffe vorangegangener Jahrzehnte.

Unbestritten ist, es wird weiter Fortschritt geben. Computer und Roboter werden an Leistungsfähigkeit zunehmen. Arbeitsplätze werden wegfallen und neue werden entstehen. Eine gehobene Qualifikation zu besitzen wird auch in Zukunft niemand schaden. Aber grundlegende Umwälzungen, deren gesellschaftliche Auswirkungen etwa mit denjenigen der Frühphase der Industrialisierung vergleichbar wären, sind nirgends abzusehen.

Ein Beispiel für die Überfrachtung des Begriffes Digitalisierung lieferte unlängst Dr. Thomas Vitzthum, Politikredakteur der "Welt”, der in einem Artikel vom 21.11.2016 unter dem Titel “Weitermerkeln? Nein! Jetzt steht eine Revolution an” auf "Welt Online" schrieb, die Digitalisierung sei das innenpolitische Kernanliegen für die kommende Kanzlerschaft von Angela Merkel. In seinem Bericht taucht die unvermeidliche “Industrie 4.0” ebenso auf wie die Ankündigung besagter “Disruption”, die von Frau Merkel sogar als “noch einschneidender als frühere Ereignisse” (gemeint sind der Buchdruck und die industrielle Revolution) gesehen werde. Merkel wird außerdem mit den Worten zitiert: „Das ist eine wahnsinnige Veränderung. Wie von der Manufaktur für Güter hin zu der industriellen Produktion ändert sich jetzt noch mal alles.“

Liest man den Artikel weiter, so häufen sich die Skurrilitäten à la “Merkel fürchtet, dass bisher keiner – außer ihr selbst – die gravierenden Folgen der Digitalisierung begriffen hat”. (Hier könnte ein Körnchen Wahrheit liegen). Es tauchen aber auch bedrohlich klingende Prognosen auf, wie z.B.: “Es wird nicht ohne Verbote und Regulierung gehen. Nicht nur illegale Inhalte sollen aus dem Netz verschwinden.” Elegant schafft es der Autor, die Wende von der industriellen Anwendung der Computertechnik hin zur politischen Meinungskontrolle zu vollziehen. Warm anziehen, kritische Internet-Blogger! Wenn ihr erst das Brandmal “Feind der Digitalisierung” tragt, dann war es das!

Wir sind also hin- und hergerissen. Die Tatsache, dass die “Digitalisierung” im Kern eine Luftnummer ist bzw. alter Wein in neuen Schläuchen, lässt hoffen, dass das Wirken der Kanzlerin diesmal mit weniger volkswirtschaftlichem Schaden verbunden sein wird als bisher. Dennoch gibt die krasse Ahnungslosigkeit , mit der hier ein Thema in den Vordergrund geschoben wird, das jeder realen Grundlage entbehrt, Anlass zur Sorge. Und nicht zuletzt die unverhohlenen Drohungen gegen die Freiheit des Internets hinterlassen einen bitteren Beigeschmack.

Christian Sell, geb. 1960, entwickelt seit 26 Jahren Software für große und mittlere Unternehmen in Deutschland.

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Jürgen Althoff / 27.11.2016

Es ist ja noch schlimmer:  Bei “vollendeter” Energiewende wird die Stromversorgung unseres vollelektronifizierten Landes davon abhängig sein, ob sich gerade genügend viele Windräder lange genung schnell genug drehen oder ob die Sonne gerade scheint. Das treibt soviel Industrie und Gewerbe aus dem Land, dass “Industrie4.0” im energiegewendeten Deutschland gar kein Thema ist.

Heiko Heublein / 27.11.2016

Danke für diesen Artikel von kompetenter Seite für Laien. -Merkel als weltweite Werteexporteurin, und dazu nun als Technologieprophetin: Der Verdacht einer gespenstischen Substanzlosigkeit, mit der aber vielfältiges Kalkül verbunden ist, wird dank solcher Artikel greifbarer.

Stefanie Zeidler / 26.11.2016

Kollektivierung plus Digitalisierung ist gleich Sieg des Merkelismus!

Wolfgang Kaufmann / 26.11.2016

Die Digitalisierung steht und fällt mit der IT-Kompetenz der Verbraucher und der Arbeitnehmer. In beidem hat Deutschland unter den Industrienationen einen kaum mehr einholbaren Rückstand. Die Angst vor Kontrolle durch NSA und Google ist größer als die Bereitschaft, dank Rechner effizienter zu arbeiten. Themen wie Gender, Öko, Klima scheinen wichtiger als das eigene Knowhow. Die junge Generation wird es vielleicht besser machen, aber das überalterte Deutschland steht in diesem Punkt technisch wie auch politisch längst auf dem Abstellgleis.

Dietrich Herrmann / 26.11.2016

Merkel und die Digitalisierung - ein Witz in sich. Wenn man sieht, wie diese Person im Bundestag während der Beratungen auf ihrem Tablet rumschiebt, mit den nagelabgekauten Fingerkuppen, kann man sich einfach nicht vorstellen, dass die Frau begriffen hat, was komplexe Digitalisierung schon seit den 70-er Jahren gebracht hat und in Zukunft bringen wird.

Dietrich Herrmann / 26.11.2016

Und wenn die Digitalisierung zukünftig tausende Arbeitsplätze vernichtet, ist es dann nicht gut, wenn die Bevölkerung bspw. in Deutschland zurückgeht? Ist es dann nicht ein Trugschluss, dass Deutschland massenhafte Zuwanderung braucht? Sollte man mal drüber nachdenken…

Klaus Metzger / 26.11.2016

Danke für Ihren Ruf “die Kaiserin ist nackt”. Seit dem sich die Angstindustrie, also Politik, Medien, Sozialindustrie, NGO´s, und ganze Expertenheere, auf diese Thema gestürzt haben, versuche ich herauszufinden, was Industrie 4.0 bedeutet. Bisher konnte auch ich wenig konkretes entdecken. Nach den Floskeln kommt keine Substanz, weder in den Talkrunden mit Menschen mit lustigen Frisuren, noch in Zeitungsartikeln und selbst ganze Bücher über das Thema bleiben im ungefähren. Ganz offensichtlich lässt sich mit diesem neuen Angstthema viel Geld verdienen und jede Menge politisches Kapital herausschlagen. Wirklich bedenklich wird das ganze aber dort, wo Merkel 4.0 das Thema mit dem Verbot und der Regulierung vermeintlich illegaler Netzinhalte verknüpft. Das riecht schwer nach Zensur politisch unbotmäßiger Meinungen. Aber das kennt man ja, selbst Rosa Luxemburg forderte die “Freiheit des Andersdenkenden” bekanntlich nur, solange sie selbst damit gemeint war. Im Sozialismus endete die Freiheit des Andersdenkenden dann immer direkt im Gulag.

JF Lupus / 26.11.2016

Wir müssen sehr auf der Hut sein. Merkel und ihre Erfüllungsgehilfen planen - und das meine ich völlig ernst - die Abschaffung der Freiheit. Wo die freie Meinungsäußerung unterdrückt wird, wo Kritik, sei sie berechtigt oder unberechtigt, zensiert wird, da ist der Schritt zur Diktatur nur ein kleiner. Ich übertreibe? Sicher nicht, ein Blick zurück in die Geschichte zeigt, dass diese schleichende Diktatureinführung schon oft stattgefunden hat. Und: Diktatur ist nicht die Herrschaft einer Person oder Partei alleine, Diktatur ist auch die unkontrolliert- und unantastbare Herrschaft einer Clique und Gruppierung aus scheinbar verschiedenen Interessengruppen, die sich unabhängige politische Parteien nennen. Merkel und ihre Erfüllungsgehilfen müssen weg. Je schneller, desto besser für Deutschland und die Zukunft unserer Kinder.

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