Gastautor / 25.05.2012 / 07:50 / 0 / Seite ausdrucken

Die wundersame Vermehrung der Flüchtlinge

Eran Yardeni

Auf der Internetseite der palästinensischen Behörde stand am 25.4.2012 die folgende Nachricht: „Palästinensischer Schlüssel der Rückkehr erreicht Berlin. Der wohl größte Schlüssel der Welt und zugleich das wichtigste Symbol der palästinensischen Flüchtlinge hat am Montag Berlin erreicht und ist jetzt im Rahmen der Berlin Biennale im Hof des KW Institute for Contemporary Art zu sehen. Auch Botschafter Salah Abdel Shafi wohnte der Zeremonie bei“. Auf einem hinzugefügten Foto kann man tatsächlich sehen, wie das riesiggroße und stolze Monument aus einem LKW ausgeladen wird. Tief berührt von dem einmaligen Werk erzählte die Kuratorin Joanna Warsza: “Diesen Schlüssel hierherzubringen ist für mich nicht nur eine Geste der Unterstützung für die Forderungen der Menschen im Westjordanland, sondern soll auch die Frage aufwerfen, welchen Raum der palästinensische Diskurs eigentlich in der deutschen Linken hat, und ob die palästinensischen Forderungen ausreichend vertreten sind.”

Aber bevor wir alle zu dem Hof des KW Institute for Contemporary Art pilgern, um den „aus Stahl gefertigten, eine Tonne schweren und etwa neun Meter langen Schlüssel“ anzustarren, lassen Sie uns ein kleines harmloses Gedankenexperiment machen:

Stellen Sie sich vor, dass Israel den sozialrechtlichen Status eines Holocaust-Überlebenden und die damit verbundenen Rechte sowie den Anspruch auf Entschädigungszahlung als vererbbar erklären würde. Was würde dann passieren? Wie würde Deutschland reagieren, wenn ca. 400000 Israelis, (diese Anzahl würde natürlich jedes Jahr steigen), Söhne und Tochter der Holocaust-Überlebenden, ihren aus dem neuen geerbten Status hervorgehenden Anspruch auf eine monatliche Rente oder auf andere Art von Entschädigung nutzen würden?

Zusätzlich würde eine solche rechtliche Änderung des Status zum statistischen Absurdum führen: Im Laufe der Zeit würde die Anzahl der Überlebende statt zu fallen ständig steigen, so dass 2045, 100 Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, mehr Holocaust-Überlebende leben würden als damals am 8. Mai 1945.

Vielleicht aber ist ein solches Szenario nicht ganz unrealistisch. Am 13.7.2007 berichtete die Zeitung HAARETZ, dass circa 3000 Kinder von Holocaust-Überlebenden die Bundesregierung verklagen wollen, damit diese für sie die Kosten einer jährlich vierzigstündigen psychotherapeutischen Behandlung übernimmt. Der Initiator, ein israelischer Rechtsanwalt namens Gideon Fischer, behauptete damals, dass ca. 4% der sogenannten zweiten Generation der Holocaust-Überlebenden, deren Anzahl in Israel er auf 350000-400000 schätzte, eine solche Behandlung benötigen.

Fischer bezog sich unter anderem auf die Ergebnisse verschiedener Forschungen, die auf eine intergenerationelle Übertragung des Holocaust-Traumas von der ersten auf die zweite Generation hinweisen. (Im April 2012 berichtete HAARETZ über eine neue Forschung, nach der die Spuren des Traumas sich auch in der dritten Generation der Überlebenden bemerkbar machen). Warum sollen die Ergebnisse solcher Forschungen nicht als die erforderliche moralische Basis für eine eventuelle Erklärung des Status als vererbbar gesehen werden?

Je komplizierter die Frage ist, desto einfacher ist die Antwort: Der Status des Holocaust-Überlebenden bezieht sich auf Menschen, die den Holocaust überlebt haben. Und den Holocaust könnte man nicht überleben ohne ihn auch persönlich zu erleben. Von daher kann der Status logischerweise nicht als vererbbar erklärt werden. Genauso wäre es absurd jemanden als Kriegsveteran zu bezeichnen wenn er im Krieg überhaupt nicht beteiligt war, geschweige denn, wenn er erst nach dem Krieg geboren wurde. Das ist auch der Grund, warum Fischer, ein anständiger Anwalt, der zugunsten der zweiten Generation der Holocaust-Überlebenden handeln wollte, sein Anspruch auf bestimmten Forderungen beschränkt hat, die nur aufgrund der besonderen und eigenartigen Situation der Kinder der Holocaust-Überlebenden zu rechtfertigen sind.

Jetzt lassen Sie uns über die palästinensischen Flüchtlingen reden. 

Nach einem Report der Vereinten Nationen, datiert auf den 23.10.1950, schätzt die UNO die Anzahl der palästinischen Flüchtlinge auf 711000, die Palästinenser hingegen schätzen die Anzahl auf ca. 900000. Die Zauberei beginnt jetzt: Recherchiert man nach der heutigen Anzahl der palästinensischen Flüchtlinge, 63 Jahre nach dem Ende des Unabhängigkeitskriegs, stößt man auf verblüffende Daten. Aus den ehemaligen 711,000 palästinensischen Flüchtlingen sind heute schon 4797723 bei UNRAW registriert, die in 58 verschiedenen Lagern leben, die Mehrheit von ihnen, 1979580, in Jordanien. Man könnte vielleicht glauben, dass dieses Rätsel durch die Anzahl der Flüchtlinge in Folge des Sechstagekriegs (1967) aufgeklärt werden könnte. Diese steht aber bei ca. 300,000 und kann deshalb die oben erwähnte arithmetische Zauberei nicht entziffern. 
 
Wie kann es dann sein? Wie ist es zu erklären, dass die Anzahl der palästinensischen Flüchtlinge ständig zunimmt, und zwar trotzt der Tatsache, dass der Unabhängigkeitskrieg mehr als 63 Jahre zurückliegt? Gelten für sie nicht dieselben Naturgesetze, die den Menschen zum sterblichen Wesen machen? Viel wahrscheinlicher aber ist, dass auf dieser endlosen Liste die Namen von so vielen Palästinensern stehen, die nie in ihrem Leben aus dem ehemaligen mandatorischen Palästina bzw. Israel flüchteten, und von daher auch nicht als „Palästina-Flüchtlinge“ betrachtet werden sollten. Aber wenn es stimmt, wenn man tatsächlich ein Flüchtling sein kann ohne je zu flüchten, soll Israel vielleicht doch, unter diesen absurden Umständen, aus unserem irrealen Gedankenexperiment einen realen Plan entwerfen.

Der Hauptdarsteller in diesem absurden Theater ist eine Hilfsorganisation Namens UNRWA (Hilfswerk der Vereinigten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten). Während andere Flüchtlinge unter dem Dach der UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) zusammenrücken müssen, genießen die Palästinenser ihre eigene Hilfsorganisation. Eigentlich geht es aber nicht nur um eine Hilfsorganisation sondern um eine Megaorganisation. Peter Hansen, UNRWA-Generalkommissar, erzählte mit Stoltz am 15.5.2012 in einem Vortrag vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, „dass UNRWA die größte Einzelorganisation der Vereinten Nationen ist, und der größte Arbeitgeber in der Region nach dem öffentlichen Dienst“. Nach der Internetseite von UNRWA umfasst das Personal „fast 30,000“. Dass jedes große Geschäft mit einem großen Personal auch viele Kunden braucht, ist logisch.

Um das Rätsel zu lösen muss man natürlich zuerst fragen, was UNRWA unter dem Begriff Palästina-Flüchtling überhaupt versteht. Im Paragraf III/A/1 der “Consolidated Eligibility and Registration Instructions“ (CERI) gibt UNRWA eine eindeutige Antwort darauf. Eins von zwei Bedingungen sollen erfüllt werden, damit man als Palästina-Flüchtling anerkannt wird: Der anzuerkennende Flüchtling sollte beweisen, dass über den Zeitraum von 1.6.1946 bis zum 15.5.1948 sein normaler Wohnort in Palästina war und dass er, „als Folge des 1948 Konflikt, sowohl sein Heim (home) als auch seine Erwerbsquelle (means of livelihood) verloren hat“. Erfüllt man diese Bedingung nicht, kann man doch als Palästina-Flüchtling anerkannt werden, und zwar wenn er ein männlicher Nachkomme eines Palästina-Flüchtlings sei. Nach dem amerikanischen Historiker Daniel Pipes „erlaubte diese Veränderung Palästina-Flüchtlinge auf einzigartiger Weise ihren Flüchtlingsstatus auf nachfolgende Generationen zu vererben“ (21.2.2012, Washington Times). Hier haben wir einen klaren Beweis, dass man als Nationalspieler bezeichnet werden kann, auch ohne je zu dem Kader der Nationalmannschaft zu gehören. Es reicht der Sohn von Rudi Völler zu sein.

Mit diesem Präzedenzfall aber erschöpfte sich die Vorstellungskraft UNRWA nicht. Völlig in ihrem Element zauberte sie noch einen Hasen aus ihrem Zylinder: „Im Widerspruch zur universalen Praxis“, schreib Pipes, „wurde der Flüchtlingsstatus auch denjenigen verliehen, die Staatsbürger eines arabischen Staates wurden“. „Irgendwann werden alle Menschen Palästina-Flüchtlinge sein” betitelte Daniel Pipes seinen Artikel in der Washington Times und wir sollen uns nicht wundern warum. Allein in Jordanien, im Jahr 2008, war die Anzahl der palästinensischen Flüchtlinge um ein Dreifaches größer als ihre Anzahl um 1950. Aus den 506200 sind 1570192 geworden. In Gaza ist das Wachstum der nie geflüchteten Flüchtlinge sogar rapider: aus 198227 Flüchtlinge im 1950 sind im 2008 nicht weniger als 1059584 geworden. Diese Daten kann übrigens jeder auf der Internetseite von UNRWA einsehen.

Die Flüchtlinge sind zur politischen Waffe geworden, und die ersten, gegen die der Lauf dieser Waffe gerichtet wird, sind sie selbst. Anstatt ihre Zukunft zu gestalten, fällt die junge Generation der ehemaligen Flüchtlinge dieser erfundenen Identität zum Opfer. 

Mit der Vererbung oder genetischen Übertragung des Status (wie der israelische Journalist Ben-Dror Jemini dieses einzigartige Phänomen zynisch beschreibt) sollte man kein Problem haben, solange sie auch für andere Flüchtlingen gegolten hätte. So könnten auch jüdische Flüchtlinge, die aus arabischen Ländern nach Israel flüchteten, ihren Status vererben.  Natürlich könnten auch Deutschen und Polen, Albaner und Serben, Pakistanis und Inder und Ukrainer und Sudanesen auf der Bühne dieses absurden Theaters tanzen und spielen. Und eigentlich könnte man dieses Vererbung- und Verewigungsprinzip auch auf andere Bereiche ausdehnen. Wenn Flüchtling ja, warum nicht Nobelpreisträger?

Wenn Israel den Status des Holocaust-Überlebenden als vererbbar erklären würde, würden die sogenannten Israelkritiker behaupten, dass die Juden den Holocaust instrumentalisieren, um aus Deutschland Geld zu erpressen. Genau deswegen sollten sie dieses Mal die Pfeile ihrer Kritik gegen die Palästinenser richten. 

Eran Yardeni, 35, hat an der Hebräischen Universität in Jerusalem über Brecht promoviert und als Privatdozent für Erziehungsphilosophie an diversen Hochschulen in Israel gearbeitet. Zur Zeit Lehrer an der Jüdischen Oberschule in Berlin.

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