Von Lutz Neumann
Eines vorweg, für den Kölner Kardinal Woelki gehört die Ausrichtung seines Denkens und Redens an Evidenz und Fakten offenbar nicht im engeren Sinne zu seiner Jobbeschreibung als steuerfinanzierter Religionsführer im rheinischen Katholizismus. Also, wenn Sie jetzt weiterlesen, bitte nicht nachträglich sagen, dass Sie sich in ihren religiösen Gefühlen beleidigt sähen...
Anlässlich des Fronleichnam-Feiertages am 28. Mai 2016 hat der Kardinal ein Flüchtlingsboot aufkaufen und von Malta nach Köln transportieren lassen. Für eine Versammlung der katholischen Kirche auf einem zentralen Platz in der Kölner Innenstadt hat er es als Rednerpult benutzt. Diesen symbolischen Akt nutzte er effektvoll für eine politische Rede („Predigt am Hochfest des Leibes und Blutes Christi“) und eine PR-Offensive. An dieser Stelle wurde bereits zu einigen seiner fragwürdigen Aussagen „Mit dem Boot bis vor den Kölner Dom“ berichtet.
Aufhorchen lässt, was er in seiner öffentlichen Rede sagte. Flankierend wurde er in der Kölner Boulevardzeitung Express zum Thema interviewt: „Welche Verantwortung Europa, der Westen, unser Leben in Wohlstand dafür haben, dass Menschen aus Syrien, Irak, Afghanistan, aus vielen afrikanischen Ländern fliehen - und was die Flüchtlinge in Europa zu finden hoffen.“
Hinsichtlich der Flüchtlinge und Asylsuchenden bringt er eine harte Anklage an die deutsche Gesellschaft hervor: „Wir leben auf Kosten dieser Menschen – und betreiben dadurch moderne Sklavenhaltung.“
Der Kirchenführer schreibt mit dieser drastischen Gesellschaftsanklage eine große Erzählung fort. Sie begann mit den Schreckensbildern des Biafra-Kriegs (Nigeria) Ende der 1960er Jahre und ergreift seitdem immer mehr Kirchenfunktionäre und Entscheidungsträger in Politik und Medien. Die große Erzählung handelt von der (Mit-)Täterschaft von einigen Gesellschaften, die sich einen gewissen Wohlstand erarbeitet haben (vornehmlich im Norden des Globus), für die Armut und das Elend von einigen anderen Gesellschaften (vornehmlich im Süden des Globus).
Sich mit dem Wohlstand in Deutschland nicht wohlzufühlen, ist zwar Teil der beliebten Nord-Süd-Erzählung. Eine neue gesellschaftliche Dimension hat es, wie pauschalisierend bei gleichzeitiger Einstreuung von zusammenhangslosen Beispielen der Kardinal den Wohlstand hierzulande in Täterschaft für das Elend in den Herkunftsländern nimmt, den deutschen Sonderweg in der Flüchtlingskrise religiös überhöht, und dafür allseits Applaus erntet. Da der Kardinal dieses Mal konkreter als gewöhnlich geworden ist, bietet sich ein Faktencheck an. Was ist also dran an seiner Sklavenhalter-Anklage?
Wir! Betreiben! Sklavenhaltung!
Wer ist „wir“? Der Kardinal meint wahrscheinlich das Merkel’sche „Wir“ („… schaffen das“). Denn nur wenn „wir“ (Woelki) auf Kosten anderer leben und diese Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat veranlasst haben, müssen „wir“ (Merkel) die Bewältigung der Folgen schaffen.
Nun ist es tatsächlich so, dass es moderne Sklavenhalter gibt. Insbesondere auch Sklavenhalterinnen und vor allem Sklavinnenhalterinnen und Sklavinnenhalter. Das Phänomen ist besonders in religiös geprägten Gesellschaften verbreitet und vor allem in der Hausdienerschaft, Prostitution und Zwangsarbeit zu finden. Menschenrechtsorganisationen beziffern das Ausmaß der Sklaverei als zwei-bis dreimal so groß wie zu Zeiten der offiziellen Abschaffung des Sklavenhandels. Bei den Haussklavinnen und Haussklaven soll zum Beispiel Mauretanien weltweit führend sein.
Es gibt jedoch keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass das Ausmaß der Haussklaverei in der Islamischen Republik Mauretanien in einem Zusammenhang mit dem Wohlstand in Deutschland steht. Und unser Einfluss auf die Verhältnisse in diesem Land, auf den dortigen religiösen Glauben und die Gesellschaftsordnung, ist eher gering. Der Kölner Kirchenführer redet daher irrational, wenn er die deutsche Gesellschaft als die von Sklavenhaltern kategorisiert und handelt verantwortungslos, auf dieser Fehleinschätzung Empfehlungen für die deutsche Asyl- und Einwanderungspolitik, und sogar für die Außen-, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik zu geben.
Deutscher Sonderweg mit falschen Fakten moralisch überhöht
Die Top 3 der Herkunftsländer der antragstellenden Asylanten und Flüchtlinge in Deutschland sind laut amtlicher Statistik Syrien, Albanien und Kosovo. Von den Zehntausenden, die aus den beiden letztgennannten Ländern nach Deutschland einreisten, erhielten im kompletten Jahr 2015 insgesamt zwanzig (20) Personen einen Schutzstatus, was zu einer Anerkennungsquote von 0,2 Prozent aller Antragssteller führte. Unter den Top 10 der Herkunftsländer sind ferner Afghanistan, Irak, Serbien, Eritrea, Mazedonien, Pakistan und dann noch die Gruppe der Ungeklärten, deren Papiere entweder nicht als authentisch anerkannt, diese Papier nicht mehr verfügbar oder die sich speziell auf die Entscheidung der Bundeskanzlerin Mitte 2015 eingestellt hatten und zur Erleichterung der Einreise in Deutschland ihre Papiere entsorgten.
Der Kardinal sieht eine „Pflicht, ihnen zu helfen, ihnen ein Leben in Frieden, eine Perspektive zu bieten“. In der deutschen Gesellschaft ist es breiter Konsens – innerhalb und außerhalb der Kirchen – Menschen in Not aus humanitären Gründen zu helfen. Das ist gelebter Humanismus, für Bedürftige einzustehen. Nur, jetzt kommt der Kardinalsfehler. Woelki bietet als Begründung: „Weil unser Wohlstand für das Elend anderswo in der Welt in höchstem Maße mitverantwortlich ist.“
Tatsächlich? Sind „Syrien, Irak, Afghanistan“ und die „vielen afrikanischen Länder“ der Ursprung unseres Wohlstandes? Dann müsste es hierfür Belege geben. Sind diese Länder die Hauptdestinationen einer deutschen oder europäischen Ausbeutung? Stehen sie bei den deutschen Auslandsinvestitionen und des deutschen Außenhandels ganz oben?
Mitnichten. Selbst unter den Top 10 Handelspartnern der deutschen Importe und der Exporte findet sich keines der Hauptherkunftsländer der Flüchtlinge. Bei Auslandsinvestitionen ebenso. Der Wohlstand in Deutschland soll auf der Ausbeutung dieser Länder aufgebaut sein?
Der Anteil von Subsahara-Afrika am deutschen Gesamtaußenhandel hat in den letzten Jahren abgenommen und liegt laut Statistischem Bundesamt bei 1,24 Prozent, wobei der Großteil auf die Republik Südafrika entfällt. Aus diesem Land ist kein Flüchtlingsstrom bekannt – jedenfalls kein schwarzafrikanischer Exodus.
Wenn es schon keinen Bezug zu Handel und Investitionen gibt, kommen vielleicht weitere Pfeiler des deutschen Wohlstandes als Schuldfaktoren in Frage. Sind Bildung, Innovationen, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit in „höchstem Maße“ für das Elend in Syrien, Irak, Afghanistan oder Afrika verantwortlich? Absurd. Ein solcher Zusammenhang – sogar als Superlativ – kann wohl nur der Imagination des Kardinals vorkommen.
Ist es Ignoranz oder haben die Unwahrheiten und Desinformationen des Kardinals Methode? Die kirchlichen Sozialkonzerne mit ihrem selbstdefinierten, verfassungswidrigen Arbeitsrecht erhalten Milliarden aus dem Steueraufkommen und gehören zu den größten Arbeitgebern des Landes. Der Umsatz von Bistümern, Sozialkonzernen wie der Caritas und Unternehmen im Großraum der Kirchen ist mit 129 Mrd. Euro um zwei Milliarden höher (!) als der Inlandsumsatz der gesamten deutschen Automobilindustrie (Carsten Frerk, Kirchenrepublik Deutschland, S. 60-61). Dreistellige Millionenbeträge aus dem Bundeshaushalt (Einzeltitel 23) gehen Jahr für Jahr in einem exklusiven Sonderverfahren an die Auslandshilfswerke der beiden christlichen Großkirchen.
Die Aussagen des Kardinals müssen also nicht zwingend seiner Ignoranz zugeschrieben werden. Ein Motiv ist vorhanden.
Morgen in der nächsten Folge: Heucheln und das Wort "Islam" vermeiden.