Michael Wolffsohn, Gastautor / 06.07.2013 / 09:37 / 5 / Seite ausdrucken

Die USA haben ein paar gute Gründe zu spionieren

Michael Wolffsohn

Deutschland und Europa sind empört: Die USA spionieren uns aus. Nur wenige Staaten, zum Beispiel der Iran und Pakistan, werden von den amerikanischen Sicherheitsdiensten intensiver beobachtet als Deutschland. Ist unser Land in den Augen der USA so etwas wie ein Schurkenstaat? Freunden, Verbündeten, Partnern gegenüber verhalte man sich nicht so, hallt es fast unisono in Deutschland. Ja, das Vorgehen der USA ist höchst problematisch. Freiheit und Sicherheit dürfen einander nicht ausschließen. Das ist die unumstößliche Norm der Demokratie an sich. Doch braucht die älteste Demokratie der Welt deutsche Nachhilfe?

Bitte mehr Bescheidenheit, liebe Landsleute. Auch Dankbarkeit. Ohne die USA gäbe es keine bundesdeutsche demokratische Republik. Ohne die USA wäre Hitler nicht besiegt worden, und ohne die USA wären wir nach 1949 zwar nicht tot, aber rot und nach 1989 nicht wiedervereinigt worden. Man bedenke bitte zudem, dass Amerika, wie Israel, als globale Terrorzielscheibe Nummer eins die Sicherheit größer schreibt als wir – und dass auch wir von dieser Sicherheitsorientierung profitieren. Oder wollen wir den Kuchen gleichzeitig bewahren und ihn essen?

Das US-Misstrauen ist weder rechtens noch richtig. Ist es berechtigt? Ist es Ergebnis jahrzehntelanger Enttäuschungen über Westeuropa sowie besonders Deutschland?

Wirkliche westdeutsch-amerikanische Freundschaft gab es in den Jahren 1948 bis 1963. Ihren Anfang markierten die menschliche Besatzungspolitik, Care-Pakete und 1948/49 die aufopferungsvolle US-Luftbrücke ins sowjetisch blockierte West-Berlin . Höhe-, Wende- und Endpunkt dieser deutsch-amerikanischen Herzens-und- Seelen-Freundschaft war der Kennedy-Besuch im Juni 1963. Seit der Eskalation des Vietnamkrieges unter USPräsident Lyndon B. Johnson (Sommer 1964) wurde aus der einstigen Liebes- eine Vernunftbindung. Die USA blieben Schutzmacht westdeutscher und westeuropäischer Freiheit. Uneigennützig war das nicht, denn auf diese Weise hatten die USA einen Kontinentalpuffer zu ihrer Ostküste, und ein Krieg hätte zunächst auf europäischem, nicht auf US-Territorium stattgefunden. Er fand nicht statt, weil die USA sich selbst und uns durch Abschreckung schützten.

Gedankt hat es ihnen die europäische und deutsche Öffentlichkeit seit Mitte der 1960er-Jahre nicht. Die dauerhafte Distanz zu den USA spiegelt sich auf der gesellschaftlichen Ebene seitdem deutlich in Umfragen wider. “Die” Deutschen liebten “Gorbi” und verabscheuten Ronald Reagan, auch Bush Vater. Beiden hatten sie viel zu verdanken: die Ouvertüre und Vollendung der Wiedervereinigung. Bush junior hassten sie geradezu. Obama verehrten sie auf Vorschuss blind als Quasi-Messias, jetzt ist auch er Beelzebub.

Amerika-Kritik, ja, Antiamerikanismus, gehört längst auch in feiner Gesellschaft zum “guten Ton”. Die Klischees sind bekannt, einige seien benannt: “hire and fire”, miese Sozialpolitik, verheerendes Gesundheitssystem, Medienmist, Politik als Schau ohne Substanz.

Jenseits der Umfragen gibt es seit knapp fünfzig Jahren feindliche Dummheiten: “USA-SA-SS” – diese Ungeheuerlichkeit wurde um 1968 aus Frankreich importiert. Sie war ein beliebter “Schlachtruf” der neulinken 68er, wenn sie Steine werfend gen Amerika-Häuser zogen und US-Flaggen verbrannten. Aus dem Volk der beschützten Deutschen mussten die beschützenden Amerikaner seit den 70er-Jahren immer häufiger mit terroristischen Anschlägen rechnen. US-Einrichtungen in Deutschland gleichen seitdem, wie israelische und jüdische, Hochsicherheitsanlagen. Schließlich kam, von deutschen “Sicherheits”-Behörden unbemerkt, der Kern der Massenmörder vom 11. September 2001 aus der Hamburger Terrorzelle.

Jene sicherheitsdefizitären Liebesbekundungen Deutschlands und Europas sollten Politik, Medien und Gesellschaft der USA nicht wahrgenommen haben? Haben wir erwartet, dass sie uns oder gar den bei uns aufgewachsenen Terroristen die andere Wange hinhalten? Schauen wir auf die Regierungsebene. Die Ostpolitik von Willy Brandt und Walter Scheel befürwortete die Nixon-Administration im Prinzip. Sie misstraute jedoch besonders dem Brandt-Vertrauten Bahr. Sie fürchtete, er, und in seinem Gefolge Westdeutschland, strebe über die Entspannung eine Entkoppelung der Bundesrepublik vom Westen an. Als die USA im Oktoberkrieg 1973 auch aus der Bundesrepublik lebensrettende Waffen nach Israel transportieren wollten, widersetzte sich die Regierung Brandt/Scheel. Sie wollte den USA verbieten, ihre eigenen Waffen aus Deutschland zu verlegen, und kassierte von Henry Kissinger den Vorwurf mangelhafter Bündnistreue. Das Veto Bonns kam genau zu dem Zeitpunkt, als Washington eine atomare Konfrontation mit der Sowjetunion befürchtete. Bundeskanzler Helmut Schmidt ließ keine Gelegenheit aus, um US-Präsident Jimmy Carter nicht nur wirtschaftspolitisch zu schelten und bloßzustellen. Im Herbst 1980, kurz vor der Bundestagswahl, drohte der Iran, die Straße von Hormus für Ölexporte zu sperren. Carter wollte das durch eine nicht schießende internationale Flotte verhindern und bat um Hilfe. Der Kanzler verweigerte sie rüde und öffentlich.

Bundeskanzler Kohl ist Bush senior bis heute dankbar, dass er nach dem Mauerfall die Wiedervereinigung förderte. Aber im Golfkrieg ließ er 1991 die USA im Stich. Nach dem 11. September 2001 gelobte Kanzler Schröder gegenüber den USA “uneingeschränkte Solidarität”. Bald danach steuerte er mit seinem Freund Putin, dem “lupenreinen Demokraten”, und Frankreichs Präsidenten Chirac nicht nur im Irakkrieg einen Anti-US-Kurs.

“Abhören von Freunden, das geht gar nicht”, erklärt jetzt der Sprecher von Kanzlerin Merkel. Sie ist eine echte Freundin der USA. Wer noch in Deutschland und Kontinental-Westeuropa? Ergeben eine Merkel und ein Cameron deutsch-europäisch-amerikanische Freundschaft? Rechtens handelten die USA nicht. Ist ihr Handeln berechtigt? Und wenn nicht berechtigt, so doch verständlich?

Zuerst erschienen un der WELT

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Leserpost

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Bernd Dahlenburg / 08.07.2013

Wenn ich an die Beziehung zwischen den USA und Europa seit Beginn des ersten Weltkrieges denke - und da besonders an die transatlantische zwischen den USA und der BRD, habe ich immer wieder ein Bild vor Augen, das sich mir spätestens seit dem Balkan-Konflikt Anfang der 1990er-Jahre einprägte: Immer dann, wenn es für Europa und Deutschland brenzlig wurde, weil in ihrem Haus wieder einmal ein Feuer ausgebrochen war und sie selbst aufgrund ihrer Zerstrittenheit und Feigheit nicht willens waren, den Brand zu löschen, riefen sie letztlich die USA (den Feuerwehrmann) zu Hilfe. Der kam dann auch treuherzig, ging in das Haus und löschte den Brand - wenn nötig, auch mit schwerem Gerät. Und jedes Mal, wenn er nach getaner Arbeit wieder aus dem Haus kam - verschmutzt und etwas abgerissen -, wiesen die Europäer/Deutschen mit ausgestrecktem Finger auf ihn und riefen: „Igitt, wie dreckig hat der sch doch gemacht. Hoffentlich fällt von seinem Schmutz nichts auf uns ab!“ Einfach nur schäbig, dieses Verhalten.

Paul H. Ertl / 08.07.2013

Ach Gottchen, Herr Willert. Sie erinnern sich doch bestimmt auch daran, daß vor den “Freien Wahlen”, die es auch in der Ostzone - glaubt man den Sowjets - IMMER gab, zunächst einmal Berlin (West, der freie Teil) blockiert werden mußte und nachdem das in die sozialistische Hose gegangen war, die “Wiedervereinigung” freien Wahlen nach SED-Art VORAUSGEHEN sollte. Daß Sie überhaupt versuchen, auf der sogenannten Stalin-Note herumzureiten, zeigt nur, daß Sie (zu Recht) auf die umfassenden Erfolge der grünsozialistischen “Bildungs"politik hoffen. Mehr aber auch nicht. Ohne die USA wäre Deutschland die popeligste Provinz in Stalins Imperium geworden. Mehr aber auch nicht. Das stört aber in einem Land, das Freiheit und Moderne heute wie gestern konsequent ablehnt, niemanden: Man muß nur seinen Ressentiments feien Lauf lassen können, mal äußern sich diese als Antiamerikanismus, mal als Antisemitismus, meist leider zusammen.

Jemeljan Pugatshow / 06.07.2013

Wie mir ein Bekannter unlängst schrieb: “Ich würde als Ami auch bei uns spionieren. Bei so viel politischer Naivität und gefährlicher Ignoranz bezüglich globaler, terroristischer Bedrohungen, die in Europa vorherrscht, muss man sich ein eigenes Bild machen und Risiken einschätzen können.” Das heisst nun nicht, dass ich ohne Bauchschmerzen auf die Bemühungen der NSA schaue. Auch ich habe Freunde in den USA. Wenn ich daran denke, dass meine Mails und Briefe an sie abgefangen und mitgelesen werden, dann fühle ich mich wie in der DDR, wo auch jeder wusste, dass es kein Briefgeheimnis gab und die Stasi überall ihre schmutzigen Griffel drin hatte. Dennoch kann ich Verständnis für die USA aufbringen. Die Art und Menge sowie Vorhaltezeit der abgeschöpften Daten muss eben nur eingegrenzt und parlamentarischer Kontrolle unterstellt werden. Da liegt wohl eben das Defizit in den USA. Nur nebenbei bemerkt: Mr. Snowden hat nur deutlich gemacht, was ohnehin SEIT JAHREN jeder wusste. Ich selbst habe zum Beispiel schon vor Jahren auf die Einrichtung einer facebook-Seite verzichtet, obwohl ich immer wieder dazu gedrängt wurde. Warum habe ich mich dagegen entschieden: es WAR IMMER bekannt, dass die NSA sich ein Zugriffsrecht auf deren Daten gesichert hatte und man mit den Geschäftsbedingungen diese Tatsache anerkennen muss. Gleiches gilt auch für andere Internet - Dienste. Warum also gerade JETZT diese Aufregung? Wahlkampfthema Anti-Amerikanismus? Medien als Erfüllungsgehilfen linker Wunschträume? Wer weiß...

James Taylor / 06.07.2013

Selbst wenn einige Staaten in Europa, insbesondere haben Sie Deutschland ins Visier genommen, so etwas wie der 52. Staat der USA wären, gibt es moralische Grenzen der technischen Überwachung, jedenfalls dann, wenn das Verhältnis auf Freundschaft, Gleichberechtigung und gegenseitiger Anerkennung beruht. Ihre Auflistung der Versäumnisse deutscher Politiker und das Ausbleiben der abgöttischen Liebe der Bevölkerung klingt dann lustig, wenn Sie als Professor für Geschichte tatsächlich der Meinung sind, dass Dankbarkeit und Liebe relevante Begriffe der Geschichtsschreibung sind. In der Realität sind sie es nicht. Auch mein Land hat unter großen Opfern die Nazidiktatur bekämpft, sogar über zwei Jahre länger als die USA. Daraus den Anspruch abzuleiten, dass die Deutschen von nun an jede Entscheidung aus London begrüßen müssen und vor Freude auf die Knie fallen sollten, würde mir niemals einfallen. Tagespolitik geschieht im Jetzt, und jetzt ist im Gegensatz zu 1945-1949 die technische Totalüberwachung eines Verbündeten ein Fehler.

Joachim Willert / 06.07.2013

Es ist Alles nur eine Frage der Zeit: Ohne die USA gäbe es keine BRD. Ohne die USA wäre die BRD heute rot. Ohne die USA wäre Deutschland aber schon 1948 wiedervereinigt, wenn auch rot eingefärbt. Leider können wir uns nicht schmerzfrei von unseren christlich-abendländischen Denkmustern befreien. Es kann eben nur errettet werden, was errettbar ist. Nur durch die BEDINGUNGSLOSE Kapitulation konnte Deutschland errettet werden. Unser Herr Morgentau wollte Bestrafung, und das wäre eine entzückend teure Angelegenheit für die USA geworden, und für die Sowjetunion ein Spaziergang durch den europäischen Supermarkt. Also kam der Marschallplan. Denn eine Kuh die man melken will, muß man vorher gut füttern. Schon vergessen was die bösen Russen im Ostsektor Berlins angestellt haben? Sie versorgten die Menschen mit den notwendigsten Lebensmitteln, eröffneten die Universität und die Oper, und anschließend boten sie FREIE Wahlen an. Und das alles nur, um anschließend die Deutschen zu knechten? Und unsere amerikanischen Freunde überschütteten uns mit JUINGAMM und SCHOKKOLLADDE. Uni oder kulturelle Einrichtungen? Fehlanzeige. Aber nun kamen sie mit der GROßEN BERTA Marschallplan, und das zarte Pflänzchen wurde plattgewalzt. Aber das kennen sie ja alles. Die USA wissen also, das sie auf die Wanzen nicht verzichten können.

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