Von Lorenz Teufel und Hans-Dieter Radecke.
Sie hatten ihm die Kleider vom Leib gerissen. Der Mann stand nackt vor den tobenden Schaulustigen. Bleich und abgemagert, geschwächt vom Blutverlust der vorausgegangenen Martern. Die Arme durch das Rad zerbrochen „an vielen Stellen das Fleisch bis auf den Knochen heruntergeschabt“. Im Jahre 1600 bestieg Giordano Bruno den Scheiterhaufen auf dem Campo di Fiori in Rom als körperliches Wrack – doch geistig ungebrochen. Sie mussten ihn knebeln, weil sie fürchteten, er würde ihre Dogmen auch weiterhin durch seine häretischen Lehren schmähen. Uneinsichtig wie er war, hatte er seinen christlichen Richtern bei der Urteilsverkündung entgegenschleudert: „Mit größerer Furcht verkündet ihr das Urteil gegen mich, als ich es entgegennehme.“
Brunos Verbrechen bestand darin, die Endlichkeit zu leugnen. Er glaubte an einen unendlichen Kosmos mit ewiger Dauer. Auf unendlich vielen Planeten sollte es unendlich viele Lebewesen geben. Welch fulminante Wirkung diese überbordende Unendlichkeit auf die damaligen Menschen gehabt haben muss, zeigt ein Brief Keplers an Galilei. Zehn Jahre nach Brunos Ermordung bekannte der Mann, der mit seinen drei Gesetzen den Weg für die moderne Wissenschaft bereitete, seine Furcht vor einer „Verbannung in das unendliche All Brunos“.
Das Weltbild dieser Zeit war in jeder Hinsicht beschränkt. Die Welt hatte einen klar definierten Anfang (den 1. Schöpfungstag), ein klar definiertes Ende (die Apokalypse), einen Mittelpunkt (den Menschen) und eine äußere Grenze (die Fixsternsphäre). Fortschritt und damit eine Verbesserung der in jeder Hinsicht endlichen Welt war nicht möglich, weil Religion, Wissenschaft und Gesellschaft bereits ihre Vollendung erreicht hatten. Auf all diesen Gebieten gab es bereits endgültige Wahrheiten, die ebenso abgeschlossen waren, wie das Universum selbst.
Grenzenlosigkeit wirkt bedrohlich
Das Unendliche wurde vor diesem Hintergrund als bedrohlich empfunden, weil es jedem dogmatischen Standpunkt den Boden unter den Füßen weg zog. Brunos disruptive Ideen verschaffen schöpferischen Geistern Freiheiten, die für alle Autoritäten gefährlich sind und das Potenzial in sich bergen, jede absolute Wahrheit hinwegzufegen. In den folgenden Jahrhunderten lieferte Brunos Glaube an die Grenzenlosigkeit der Welt den Treibstoff für eine beispiellose Entwicklung der Menschheit. Von nun an waren Grenzen keine gottgegebenen, unüberwindlichen Schranken mehr, sondern Herausforderungen, die der menschliche Geist – sehr zum Missfallen der Dogmatiker, Ideologen und Autoritäten – überwinden oder doch zumindest verschieben konnte.
In einem unerschöpflichen Kosmos liegt hinter jeder Grenze eine neue Möglichkeit. Die Physik des Aristoteles, die man als letztgültige Wahrheit zu akzeptieren gelernt hatte, wurde dabei ebenso überrollt wie Euklids Mathematik oder die Wachstumsgrenzen eines Thomas Robert Malthus. Wann immer in all diesen Jahrhunderten ein kluger Kopf oder eine vom Weltheil beseelte Gruppe eine Grenze auszumachen meinte, die nicht überschritten werden könne (oder dürfe), setzte sich der freie Menschengeist früher oder später darüber hinweg und erweiterte dadurch Wissen und Wohlstand bis zu einem Grad, der Brunos Zeitgenossen unbegreiflich gewesen wäre.
Der französische Mathematiker Auguste Comte hielt die chemische Zusammensetzung der Sterne für eine prinzipiell unerreichbare Erkenntnis, die Pariser Akademie der Wissenschaften hielt die Impfung gegen Pocken für unmöglich. Baron Kelvin glaubte, die Wissenschaft sei im Großen und Ganzen abgeschlossen, und lehnte Maxwells Gleichungen, die Radioaktivität und Darwins Evolutionstheorie ab. Außerdem weigerte er sich, an die physikalische Möglichkeit von Flugzeugen zu glauben. Hertz und Poincaré glaubten nicht an das Radio. Edison hielt ein Telegrafenkabel durch den Atlantik und den Wechselstrom für Unsinn. Die Royal Society lehnte Edisons Glühbirne und den Blitzableiter ab. Der Club of Rome prophezeite das Ende aller Ölvorräte für 1992, Al Gore das Abschmelzen der arktischen Polkappe bis 2013 und Isaac Newton den Weltuntergang für das Jahr 2060.
Der Glaube an absolute Grenzen schürt Ängste vor einem Kollaps des Bestehenden und verschafft ihnen etwas Gottgegebenes, das dem Einzelnen keine andere Wahl lässt als sich ihnen unterzuordnen. Die Erfahrung, die Bruno mit einem derartigen Glauben gemacht hat, erscheint uns heute oft als düstere Vergangenheit, weil die Aufklärung die befreiende Weltsicht in alle Ecken unserer Gesellschaft getragen hat, dass jedes Individuum, indem es seinen unverwechselbaren Standpunkt in der Welt definiert, dabei eigene persönliche Grenzen konstruiert, die nicht mit denen der Mehrheit übereinstimmen müssen.
Aufklärung befreit
Die Aufklärung sah den Einzelnen nicht mehr streng als Teil einer größeren Gruppe, eines Schöpfungsplans oder Glaubenssystems, durch deren Regeln seine Existenz definiert und beschränkt wurde, sondern als ein sich selbst definierendes freies Einzelwesen mit unantastbaren Rechten. Den prägnantesten Ausdruck fand dies in dem einfachen Satz: Im Zweifel für die Freiheit des Angeklagten. Die Freiheit des Einzelnen darf somit nur dann begrenzt werden, wenn er das Leben, die Gesundheit oder die Freiheit anderer konkret bedroht oder einschränkt – und dies auch durch Fakten bewiesen werden kann. Der Wille, der Glaube oder die Angst der Mehrheit (oder von Autoritäten) können und dürfen nicht ausreichen, um die Freiheit des Einzelnen zu beschränken.
Der Erfolg der abendländischen Wissenschaft und Gesellschaft beruht zu einem nicht unerheblichen Teil auf der Erkenntnis, dass es dem Einzelnen erlaubt sein muss, die dogmatischen Grenzen anerkannter (staatlicher, religiöser, wissenschaftlicher) Autoritäten oder der Mehrheit anzugreifen und zu verschieben. Auf diese Weise konnte immer dort, wo ein großer Denker oder eine Gemeinschaft an ihre selbst gesetzten dogmatischen Grenzen stieß, ein neuer „Bruno“ hervortreten und diese Grenzen für alle anderen erweitern. So konnte Edison den Horizont der Royal Society mit seiner Glühbirne erleuchten und Tesla wiederum Edisons Gleichstromdogma durch Wechselstrom umpolen. Dass kreative freie Individuen die Fesseln eines verordneten Endlichkeitsdogmas sprengen und schöpferische Kraft aus dem von Bruno aufgezeigten Raum unendlicher Möglichkeiten gewinnen können, ist der fundamentale Motor für den Fortschritt der Menschheit, der an allen technischen, wirtschaftlichen und sozialen Kennzahlen nachweisbar ist.
Endlichkeit schafft Beherrschbarkeit
Allgemein anerkannt ist dieser Zusammenhang allerdings nicht. Auch in Europa, speziell in Deutschland, hat er derzeit keinen leichten Stand. Immer mehr Menschen unterwerfen sich einem Glaubenssystem der Angst, das seine Wurzeln in der Absolutsetzung von Begrenzungen hat. Der einzelne Mensch tritt in dieser Ideologie in erster Linie als Störfaktor auf: Wie eine Krebszelle breitet er sich in einem begrenzten Lebensraum unkontrolliert aus, verbraucht die begrenzten Ressourcen und produziert dabei Giftstoffe, die die Zukunft des begrenzten Systems massiv bedrohen und zu einem vom WWF prophezeiten „Burn out“ des gesamten Planeten führen. Dessen Kollaps kann innerhalb dieses Angstsystems nur verhindert werden, wenn WIR Wachstum verringern, WIR weniger konsumieren, WIR den Fortschritt lenken, WIR die Ressourcen schonen und WIR uns weniger egoistisch verhalten. Kurz: Das System braucht uns nicht, aber jeder Einzelne braucht das System und muss sich deshalb seinen Regeln fügen und seine Grenzen respektieren.
Die Unterwerfung unter ein Glaubenssystem, das die Begrenztheit aller Ressourcen propagiert – dies angesichts der Tatsache, dass wir von buchstäblich unerschöpflichen Rohstoff- und Energiemengen im Sonnensystem umgeben sind und eine Grenze für die menschliche Kreativität nicht einmal theoretisch definierbar ist – befördert zudem die hierzulande ohnehin populären ideologischen Nullsummenspiele. Wenn alles endlich und begrenzt ist, dann ist es auch der mögliche Wohlstand. Dann wird Wohlstand eben nicht durch Ideen und wirtschaftliches Engagement erschaffen, sondern lediglich verteilt. Die Reichen leben dann auf Kosten der Armen, denen sie ihren rechtmäßigen Anteil aus einer begrenzten imaginären Schatzkammer rauben konnten, weil sie egoistischer, skrupelloser, hinterhältiger und gewalttätiger waren. So lassen sich dann Eingriffe in die persönlichen Eigentumsrechte durch ethisch begründete Zwangsumverteilungen rechtfertigen.
Wenn alles endlich ist, können Verbrauch, Gebrauch und Erschaffung beliebig besteuert, gesteuert, begrenzt oder verboten werden. So eröffnet die Religion der Endlichkeit ihren Priestern den grenzenlosen Raum staatlicher Gängelungen. Mit der doktrinären Vorstellung eines begrenzten und verletzlichen Systems, das zu unser aller Wohl um jeden Preis beschützt und erhalten werden muss, kann nicht nur nach Herzenslust der Einzelne kontrolliert und beschränkt werden, da können die Systemverwalter dann „Zukunft aktiv gestalten“ und kommende Generationen vor unserem grenzenlosen Egoismus schützen. Vorzugsweise geschieht dies durch Abbau von Freiheiten, Einschränken von Möglichkeiten, Ausbau der Bürokratie und permanente Eingriffe in das Marktgeschehen. Endlichkeit schafft Beherrschbarkeit.
In einer Perversion der Intention der Aufklärung lautet der neue Slogan: Im Zweifel für die Sicherheit des Systems. In einem solchen ideologischen Rahmen dient dann die Vernunft nicht mehr der Freiheit des ICH, sondern die irrationale Angst der Mehrheit diktiert die Regeln für das WIR. Die Welt durch Innovation besser zu machen ist nicht mehr Ziel. Endzweck aller Handlungen sind nun die Verhinderung der Systemzerstörung durch die Selbstsucht des Einzelnen und die Umverteilung des Kapitals. Fortschritt gilt als Bedrohung, das optimistische Vertrauen in die Unbegrenztheit menschlicher Kreativität als Ausdruck von kindlicher Naivität oder grenzenloser Gier.
Wer Neues wagt und Risiken nicht von vorneherein zu 111 Prozent ausschließen kann, gilt als gefährlicher Vabanquespieler, der aus Gewinnsucht die Rache des bedrohten Systems riskiert. Denn das System steht dem alttestamentarischen Gott an Rachsucht in nichts nach. Fracking wird durch Giftwasser oder Flammen aus dem Wasserhahn bestraft, die Anwendung sündhafter Gentechnik zieht die Vernichtung allen Lebens („Ökozid“) durch mutierte Killerorganismen nach sich und wer den Mahnruf der Tsunami-Epiphanie, mit der das System alle wahrhaft Sehenden vom anderen Ende der Welt her erleuchtet hat, nicht beherzigt, dem fliegen die sichersten Atomkraftwerke des Planeten eher früher als später um die Ohren.
Schwache Geister
Geht es um politisch unkorrekte Ängste, so dozieren dieselben Menschen, die aus irrationaler Angst vor der Begrenztheit der Welt ganze Industrie- und Forschungszweige in ihrer Existenz bedrohen, dass Angst ein schlechter Ratgeber sei. Politisch korrekte Ängste schüren sie dagegen gerne. Hunderte Milliarden Nutztiere wurden mittlerweile in vielen Teilen der Welt mit genoptimierten Pflanzen gefüttert und vom Menschen als Nahrungsquelle genutzt. Auf Vernunft und Fakten basierende Untersuchungen zeigen nicht den geringsten Hinweis auf Gefahren, die von „Genpflanzen“ ausgehen – weder für Tier noch Mensch. Dennoch ist es in Deutschland schon seit Jahren unmöglich, Freilandversuche mit gentechnisch veränderten Pflanzen durchzuführen. Nicht die Ankläger müssen durch Fakten zweifelsfrei nachweisen, dass Genpflanzen ihr Leben, ihre Gesundheit oder ihre Freiheit bedrohen, nein, das WIR-Gefühl einer dem „Wohl“ des Systems verpflichteten Mehrheit reicht heute aus, um die Forschungsfreiheit auszuhebeln und die persönliche Freiheit vieler Wissenschaftler einzuschränken.
Endlichkeitsdenken, Nachhaltigkeit, Vorsorgeprinzip – dieses ideologische Dreigestirn ist inzwischen dabei, nicht nur Kreativität in Lähmung und individuelle Freiheit in den Konformismus zu treiben, sondern auch Dynamik in Stillstand zu verwandeln. Deutschland ist lange nicht mehr so innovativ wie es gerne glauben möchte. Außerhalb der Automobil- und Maschinenbaubranchen, die den Löwenanteil an Innovation und Investition stellen, fällt Deutschland gegenüber den USA und Asien zurück. So gut wie alle technologischen Revolutionen der letzen Jahrzehnte, vom mobilen Internet über soziale Medien bis hin zur Share Economy, sind Umsetzungen von Ideen, die von freien „Naivlingen“ in den USA erdacht und konzipiert wurden. Bei den deutschen Beiträgen handelt es sich meist nur noch um eine Perfektionierung des bereits Bekannten, kaum um bahnbrechendes Neues.
Der Nobelpreisträger Edmund Phelps, der als einer der angesehensten Innovationsforscher die Entwicklung der Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit von 21 Ländern untersucht, vermeldet dazu nicht wirklich Überraschendes: „Unsere bisherigen Ergebnisse zeigen, dass die USA nach wie vor besonders innovativ sind ... Auch Großbritannien schlägt sich noch recht gut … Deutschland hat ebenso wie Frankreich sehr viel an Kraft verloren und bringt nur noch sehr wenige echte Innovationen hervor.“ Und der Zukunftsforscher Gábor Jánszky findet: „An der Westküste der USA gibt es in jedem Hackerspace zehn Visionäre, die sagen: In zehn Jahren wird es dieses und jenes geben und ich bin da vorne mit dabei. In Deutschland sind wir in einem Zustand der Gesellschaft und auch der Wirtschaft angelangt, der sehr satt ist, wo sich die Gedanken darum drehen, Besitzstände zu wahren, anstatt Chancen zu erkennen und zu neuen Ufern aufzubrechen. Diese Haltung treibt derzeit die Kreativsten aus Deutschland hinaus … Fortschritt braucht Offenheit und Mut für Neues, auch für kreative Zerstörung.“
Eine Gemeinschaft, die dem Fortschritt misstraut, setzt den Menschen an sich herab – weil sie seinen inneren Drang zu Kreativität und Innovation, zur Überschreitung von Grenzen, missachtet und damit seine Freiheit beschränkt. Als Alexander von Humboldt im 19. Jahrhundert an seinem „Kosmos“ schrieb, in dem er das gesamte Wissen der Menschheit darstellen wollte, wusste er sehr genau, dass dieses Werk nie vollendet werden kann, weder von ihm, noch von nachfolgenden Generationen. Er schrieb: „Schwache Geister glauben in jeder Epoche wohlgefällig, dass die Menschheit auf den Culminationspunkt intellektueller Fortschritte gelangt sei; sie vergessen, daß durch die innige Verkettung aller Naturerscheinungen, in dem Maaße, als man vorschreitet, das zu durchlaufende Feld eine größere Ausdehnung gewinnt: daß es von einem Gesichtskreise begrenzt ist, der unaufhörlich vor dem Forscher zurückweicht.“
Die Tyrannei einer Begrenztheitsideologie, die die Philosophen der Aufklärung schon auf den Müllhaufen der Geschichte verbannt glaubten, kehrt heute mit Macht zurück. Eine Gemeinschaft, die ihren Kindern nicht mehr beibringt, dass sie die Welt verbessern können (und auch sollen), indem sie ihre Freiheit dazu nutzen, Grenzen zu sprengen und neue Ideen und Produkte zu entwickeln, sondern sie darauf verpflichtet, „das System“ durch Verzicht zu retten und seine Grenzen zu heiligen, verrät mehr als nur das Erbe unserer Vorfahren, sie verrät all das, was freie Menschen ausmacht: das „Bestreben (), das Leben durch einen größeren Reichthum von Ideen zu verschönern.“ (Humboldt)
Ob strafender Gott oder strafende Natur – die geistig begrenzten Angsttreiber bedrohen uns als Individuen wie als Gesellschaft: durch Entzug der Selbstbestimmung und Gefährdung des Wohlstands.
Die Autoren sind Physiker und als freie Journalisten tätig. 2010 erschien bei Droemer ihr erstes gemeinsames Buch: „Was zu bezweifeln war. Die Lüge von der objektiven Wissenschaft“.