Hansjörg Müller / 04.12.2010 / 12:14 / 0 / Seite ausdrucken

Die Türkei als Hüterin der Menschenrechte

Der aggressive deutsche Nationalismus, vor dem Europas Völker zwischen 1870 und 1945 zitterten, feiert dieser Tage eine Auferstehung. Während er früher eine Sache der Rechten war, ist er heutzutage eine Domäne der Linken. Natürlich kommt er mittlerweile politisch korrekt daher: das Wort „deutsch“ wurde durch „europäisch“ ersetzt. Ähnlich, wie das deutsche Kaiserreich äußere Feinde brauchte, um die widerstrebenden Bayern, Sachsen und Württemberger von einem preußisch dominierten Nationalstaat zu überzeugen, glaubt man heute offensichtlich, dass sich auch die EU Gegner suchen müsse, um ein europäisches Nationalgefühl herzustellen. Der Wunschgegner eines jeden deutschen Linken sind dabei natürlich die USA. Da man aber weiß, dass man vorerst noch kleinere Brötchen backen muss, nimmt man mit weniger großen Feinden vorlieb. Wer böte sich da besser an als die Schweiz? Ein kleines Land im Herzen Europas, das seine Geschicke selbst bestimmen will und das die Teilnahme am großen europäischen Friedensprojekt hartnäckig verweigert. Ein Dorn im Auge der Europäischnationalen.

Gelegenheit zum Angriff bietet die Schweiz ihren Nachbarn immer wieder, nämlich dann, wenn das uneinsichtige Volk einmal wieder anders abstimmt, als es die Eliten gerne hätten. Der jüngste derartige Fall war das Ja der Bürger zur Ausschaffungsinitiative. Damit habe sich die Schweiz „mutwillig außerhalb“ der europäischen Wertegemeinschaft gestellt, schwadronierte die „Süddeutsche Zeitung“. Das dürfe die EU „nicht hinnehmen“. Schaut man sich die umstrittene Initiative einmal genauer an, kann man die ganze Aufregung freilich nicht verstehen. Dort heißt es: Ausländer „verlieren unabhängig von ihrem ausländerrechtlichen Status ihr Aufenthaltsrecht sowie alle Rechtsansprüche auf Aufenthalt in der Schweiz, wenn sie wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts, wegen einer Vergewaltigung oder eines anderen schweren Sexualdelikts, wegen eines anderen Gewaltdelikts wie Raub, wegen Menschenhandels, Drogenhandels oder eines Einbruchsdelikts rechtskräftig verurteilt worden sind.“

Im Klartext heißt das: wenn ein elfjähriges Mädchen 20 Franken aus einer Ladenkasse klaut, wird es, entgegen der immer wieder geäußerten Behauptungen der Initiativgegner, nicht in die Türkei abgeschoben. In einem solchen Fall wird es nämlich kaum zu einer rechtskräftigen Verurteilung kommen. Außerdem: in Staaten, in denen die Todesstrafe zur Anwendung kommt oder in denen gefoltert wird, wird ausdrücklich nicht ausgeschafft. Es gibt also keinen Grund, warum die Initiative nicht im Einklang mit den Menschenrechten stehen sollte. Im Gegenteil, man könnte sogar fragen, ob der Initiativtext nicht zu wenige Straftatbestände vorsieht: niemand will im Ernst eine elfjährige Ladendiebin abschieben, aber warum sollte eigentlich ein 27-jähriger Kosovo-Albaner, der zum wiederholten Mal mit 120 km/h durch das Dorfzentrum von Küsnacht am Rigi braust - nur so zum Spaß - , und dabei den Tod von Unbeteiligten billigend in Kauf nimmt, nicht ausgewiesen werden?

Zumindest ein Gutes hat die europäische Empörung über das verstockte Schweizervolk aber doch: einmal mehr entstellen die internationalen Organisationen sich selbst zur Kenntlichkeit. Der Europarat, in dem unter anderem Russland und Aserbaidschan darüber wachen, dass Norwegen und die Niederlande die Menschenrechte einhalten, hat sich selbst zum „Wachhund“ erklärt, der die Schweiz von nun an genau beobachten werde. Die bittere Pointe dabei ist, dass der derzeitige Präsident des Gremiums, der Türke Mevlüt Cavusoglu, ein Land vertritt, in das die Schweiz niemanden abschiebt. Weil dort nämlich systematisch gefoltert wird.

Das Problem all dieser internationalen Organisationen - egal, ob es sich um den Europarat oder die UNO handelt - ist im Grunde folgendes: der Westen wollte durch ihre Gründung das fair-play-Prinzip in die internationale Politik einführen, leider ohne daran zu denken, dass man es auf der Weltbühne nicht nur mit Gentlemen zu tun hat. Das führt dann dazu, dass China, Kuba und Saudi-Arabien im UNO-Menschrechtsrat eine anti-israelische Resolution nach der anderen verabschieden. Oder aber, dass die EU, wie die „Süddeutsche Zeitung“ fordert, die Schweiz Mores lehren soll. Der Präsident der EU, Herman van Rompuy, hat übrigens vor einigen Tagen den libyschen Gewaltherrscher Gaddafi getroffen. Sie scheinen sich prima verstanden zu haben, die beiden Herren: http://bit.ly/hGYJyt

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