Vera Lengsfeld / 29.01.2017 / 16:08 / Foto: Wald1siedel / 3 / Seite ausdrucken

Die Schrecken der revolutionären Gesetzlosigkeit

Weil sich in diesem Jahr unter anderem der Oktoberputsch der Bolschewiki zum hundertsten Mal jährt, der als Revolution für die Befreiung der Benachteiligten und Unterdrückten verklärt wurde, habe ich „Doktor Schiwago“ von Boris Pasternak gelesen. Dieses Buch ist zur Legende geworden, nicht nur wegen des Oscar-gekrönten Hollywoodfilms, sondern wegen seiner dramatischen Veröffentlichungsgeschichte.

Boris Pasternak ist ein zu großer Schriftsteller, um sich in die Niederungen der Propaganda zu begeben. Er schildert aber die bolschewistische Hölle, die über die Bevölkerung Russlands hereinbrach, so drastisch, dass kein Zweifel an seiner Ablehnung, ja seinem Abscheu gegenüber dem Regime aufkommen kann.

Pasternak arbeitete seit Beginn der 1920er Jahre an Texten, die in den späteren Roman einflossen. Erst 1957 war das Werk veröffentlichungsreif. Pasternak bot es Konstantin Fedin für die Literaturzeitung Novyj an, schickte aber gleichzeitig ein Exemplar an den italienischen Verleger Giangiacomo Feltrinelli. Fedin lehnte die Veröffentlichung ab, obwohl er den Roman als „großen Wurf“ bezeichnete. Feltrinelli publizierte ihn auf Italienisch und Russisch. In der Folge wurde Pasternak aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen und gezwungen, den Literaturnobelpreis abzulehnen. In meiner Ausgabe des Fischer-Taschenbuchverlages ist ein Ausschnitt aus Kindlers Literaturlexikon beigefügt, in dem die Autorin Anja Tipper die Auffassung vertritt, dass die Kampagne gegen Pasternak hauptsächlich wegen seines „ungewöhnlichen Vorgehens“, sein Manuskript in den Westen gegeben zu haben, ausgelöst worden sei. Der Text sei nicht antistalinistisch, weil die Handlung hauptsächlich in der Zeit vor Stalins Machtübernahme spielt, antisowjetische Äußerungen seien kaum zu finden.

Als die Begriffe des vorigen Jahrhunderts noch wirksam waren

Wenn der Roman eins klar macht, dann ist es, dass der Stalinismus keine Pervertierung des Leninismus war, sondern seine brutalisierte Fortsetzung. Pasternak schildert das Leben in einer sibirischen Kleinstadt, die im Bürgerkrieg mehrmals unter wechselnde Herrschaft der Roten und der Weißen fiel. An Grausamkeit standen sich beide Seiten nichts nach, wobei die Zivilbevölkerung bei den Roten noch mehr in Mitleidenschaft gezogen wurde. Es war lebensnotwendig, täglich die immer neuen Dekrete zu studieren, die öffentlich angeschlagen wurden. Ein Verstoß gegen ein Dekret wurde mit dem Tod bestraft, auch wenn man es nicht gekannt haben konnte.

Pasternak lässt seine Hauptheldin Lara, die Geliebte von Schiwago, sagen:

„Ich habe die Zeit erlebt, in der die Begriffe des friedlichen vorigen Jahrhunderts noch wirksam waren. Es war üblich, der Stimme des Verstandes zu vertrauen. Das, was das Gewissen einem sagte, galt als natürlich und notwendig. Der Tod eines Menschen durch die Hand eines anderen war eine Seltenheit ... Mord, so nahm man an, gab es nur in Tragödien, Kriminalromanen und auf den Lokalseiten der Zeitungen, nicht aber im gewöhnlichen Leben. Und nun der Sprung aus dem geruhsamen, unschuldigen Gleichmaß in Blut und Geheul, in allgemeinen Wahnsinn und in die Verrohung durch täglichen und stündlichen, legalisierten und verherrlichten Mord. So etwas geht nie spurlos vorüber. Du erinnerst Dich ... wie schlagartig die allgemeine Zerrüttung einsetzte: Zugverkehr, Versorgung der Städte mit Lebensmitteln, die Grundlagen des Bewusstseins.“

Heute liest man diese Analyse mit einer gewissen Beklemmung. Es gibt nicht den legalisierten Mord, aber immerhin schon verbale Hinrichtungen. Hier gibt es Parallelen zur Auflösung der traditionellen Gesellschaft in Russland und heute bei uns:

„Dann beginnt die zweite Periode. Die dunklen Kräfte der Anbiederer, der vorgeblichen Sympathisanten gewinnen die Oberhand. Es kommt zunehmend zu Verdächtigungen, Denunziationen, Intrigen, Hass und Feindschaft.“

Wenn diese Sätze keine vernichtende Kritik am Sowjetsystem sein sollen, hat es keine antisowjetische Kritik gegeben. Wegen der fortgesetzten Verharmlosung der kommunistischen Diktatur ist es möglich, dass wir die „zweite Periode“ des Hasses und der Denunziation gerade wieder erleben. Die Methoden der kommunistischen Diktatoren wurden nie geächtet. Deshalb feiern sie heute unbekümmerte Urständ'.

Gegen die Herrschaft des Ausgedachten

Aber auch den Stalinismus entlarvt Pasternak am Ende seines Romans mit aller gebotenen Schärfe. Er lässt zwei ehemalige Lagerhäftlinge miteinander sprechen. Der eine hatte unter Lenin gesessen, der andere wurde unter Stalin zu Beginn des Großen Terrors 1937 verhaftet, als die meisten Gefangenen noch elend zugrunde gingen:

„Ja. Ein Pfahl mit der Nummer ‚Gulag 92 JN 90‘, sonst nichts. In der ersten Zeit haben wir bei strengem Frost mit bloßen Händen dünne Stäbe gebrochen, um Hütten zu bauen ... nach und nach haben wir uns selber eingebaut. Wir haben unsere eigenen Gefängnisse errichtet, drum herum Zäune, Karzer, Wachtürme – alles mit eigenen Händen. Danach mussten wir Bäume fällen. Je acht Mann vor den Schlitten, so haben wir die Stämme gezogen, bis zur Brust im Schnee.“

Im Krieg durften die Häftlinge sich freiwillig für die Strafkompanien an die Front melden. Wer die endlosen Kämpfe überlebte, kam in die Freiheit.

„Dann Angriff auf Angriff ... monatelang orkanartiges Feuer ... diese blutige Hölle war noch ein Glück, verglichen mit den Gräueln des Konzentrationslagers ...

Pasternaks „Dr. Schiwago“ zählt zur Weltliteratur und erlebte Millionenauflagen. Von daher ist es ein Rätsel, warum die geschilderten Gräuel nie zum Allgemeinwissen wurden. Pasternaks Urteil ist vernichtend:

„... die Kollektivierung war eine falsche, misslungene Maßnahme, und sie wollten nur nicht den Fehler zugeben. Um den Misserfolg zu bemänteln, mussten sie den Menschen mit allen Abschreckungsmitteln das Denken und Urteilen abgewöhnen und sie zwingen, Nichtvorhandenes zu sehen und dem Augenschein Zuwiderlaufendes behaupten ... Als der Krieg ausbrach, waren seine realen Entsetzlichkeiten, seine realen Gefahren und seine realen Todesdrohungen geradezu ein Segen, verglichen mit der unmenschlichen Herrschaft des Ausgedachten ...“

Gegen die Herrschaft des Ausgedachten haben wir auch heute zu kämpfen. Wenn wir den Kampf verlieren, drohen bittere Konsequenzen, auch wenn wir noch nicht genau wissen, wie sie aussehen werden.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Cora B. Hermann / 30.01.2017

Liebe Frau Lengsfeld, ich gebe Ihnen völlig Recht - Pasternak´s Buch ist eine starke Kritik. Warum das im Westen nicht erkannt wurde, liegt schlicht und ergreifend daran, dass die meisten “Dr. Shivago” nur als Film kennen. Und dieser überdeckt mit seinen (grandiosen) Bildern die eigentliche Aussage des Romans. Auch ich muss gestehen, dass ich erst sehr viel später das Buch gelesen habe und feststellen musste, dass zwischen dem eigentlichen Werk und dem Film Welten liegen.

Joachim Brunold / 30.01.2017

Über die verheerenden geistigen, sozialen und materiellen Folgen des Kommunismus sowjetischer Spielart berichtet die weissrussiche Trägerin des Literaturnobelpreises, Swetlana Alexijewitsch, in eindringlicher und beklemmender Weise in ihrem Buch: Secondhand-Zeit - Leben auf den Trümmern des Sozialismus

Belo Zibé / 30.01.2017

Grossen Stürmen geht eine kleine Brise voraus!

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Vera Lengsfeld / 11.03.2024 / 16:00 / 20

Wie rettet man eine Demokratie?

Warum lässt die schweigende Mehrheit zu, dass unter dem Schlachtruf, die Demokratie und das Grundgesetz zu verteidigen, beides ausgehöhlt wird? Was man ganz einfach tun…/ mehr

Vera Lengsfeld / 10.03.2024 / 16:00 / 9

Eine Schulung im Denken

Denken ist ein Menschenrecht, aber wer beherrscht die Kunst des Denkens? Warum ist Propaganda so wirksam und für viele Menschen so schwer zu durchschauen? Volker…/ mehr

Vera Lengsfeld / 06.02.2024 / 12:00 / 38

Wie man Desinformation umstrickt – und noch schlimmer macht

Wenn man gewisse „Qualitätsmedien" der Fehlberichterstattung und Manipulation überführt, werden die inkriminierten Texte oft heimlich, still und leise umgeschrieben. Hier ein aktuelles Beispiel.  Auf diesem Blog…/ mehr

Vera Lengsfeld / 04.02.2024 / 15:00 / 20

Die Propaganda-Matrix

Die öffentlich-rechtlichen Medien und die etablierten Medien leiden unter Zuschauer- und Leserschwund, besitzen aber immer noch die Definitionsmacht. Das erleben wir gerade wieder mit einer Propaganda-Welle. …/ mehr

Vera Lengsfeld / 02.02.2024 / 06:05 / 125

Wie man eine Desinformation strickt

Am 30. Januar erschien bei „praxistipps.focus.de“ ein Stück mit dem Titel: „Werteunion Mitglied werden: Was bedeutet das?“ Hier geht es darum: Was davon kann man davon…/ mehr

Vera Lengsfeld / 06.01.2024 / 06:25 / 73

Tod eines Bundesanwalts

Als ich noch in der DDR eingemauert war, hielt ich die Bundesrepublik für einen Rechtsstaat und bewunderte ihren entschlossenen Umgang mit den RAF-Terroristen. Bis herauskam,…/ mehr

Vera Lengsfeld / 29.12.2023 / 13:00 / 17

FDP #AmpelAus – Abstimmung läuft noch drei Tage

Die momentane FDP-Führung hatte offenbar die grandiose Idee, die Mitgliederbefragung unter dem Radar über die Feiertage versanden zu lassen. Das Online-Votum in der FDP-Mitgliedschaft läuft…/ mehr

Vera Lengsfeld / 19.12.2023 / 08:32 / 122

Mist als Abschiedsgeruch für die Ampel

Wahrscheinlich wird es die Ampel nicht auf eine Totalkonfrontation mit den Bauern ankommen lassen, sondern durch Teilrücknahme versuchen, die Proteste zu beenden, denn in Berlin…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com