Bassam Tibi, Gastautor / 16.03.2017 / 06:15 / Foto: Win Henderson / 0 / Seite ausdrucken

Die Rückkehr des Judenhasses

Von Bassam Tibi.

In einem Interview mit der Basler Zeitung im Juli des vergangenen Jahres habe ich am Beispiel meiner eigenen Lebensgeschichte in Damaskus erläutert, wie Menschen im Nahen Osten in einer politischen Kultur des Judenhasses aufwachsen. Die Flüchtlinge, die aus dieser Region nach Europa kommen, bringen diese antiwestliche und judenfeindliche politische Kultur mit sich. Ich werde hier nicht wiederholen, was ich im Interview sagte. Doch nehme ich eine Facette der Problematik auf, die das gesamte Europa betrifft: Die Deutschen und ihre schändliche Geschichte im Verhältnis zu den Juden und was sie selbst hieraus heute lernen beziehungsweise bisher gelernt haben sollten. Anlass zu dieser Vergegenwärtigung gibt die Tatsache, dass Deutschland heute trotz seiner Vergangenheit anderen gegenüber als moralischer Lehrer auftritt, gleichzeitig aber antisemitischen islamischen Flüchtlingen Schutz gewährt.

Ich möchte mit einem deutschen Juden anfangen, der mit seiner Familie vor Hitlers Diktatur 1933 in die USA floh, wo er für mich bis zu seinem Tod Mentor und Freund war. Es ist der grosse Soziologe Reinhard Bendix, der in Berlin geboren wurde und bis zu seinem Lebensende in Berkeley lehrte. Er ist Autor des jüdischen Familiendramas "Von Berlin nach Berkeley. Deutsch-­jüdische Identitäten". Nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 vertraute er mir in einem persönlichen Gespräch seine Sorge an, was Deutsche tun würden, wenn sie wieder mächtig sind.

Kürzlich fühlte ich mich an Bendix erinnert, als ich vernahm, wie der neue deutsche Aussenminister in Washington den Amerikanern Vorhaltungen über Religionsfreiheit machte. Diese Person, Sigmar Gabriel, ist nicht nur blass, ihm fehlt in der Aussenpolitik auch jede Fachkompetenz. Dennoch benimmt er sich wie ein Elefant im Porzellanladen, wenn er die Trump-Administration über den Respekt vor dem Islam und Religionsfreiheit belehrt. Ebenso belehrend war die deutsche Verteidigungsministerin auf der Münchner Sicherheitskonferenz, als sie an Amerika gerichtet vor Islamophobie warnte.

Selbstvergötzung und Narzissmus

Vorab möchte ich dies als ein in Deutschland lebender Ausländer klarstellen: Die Deutschen haben keine Legitimation für solche Belehrungen. Aus dem Munde dieser Politiker höre ich das, was mein jüdischer Lehrer Adorno im Aufsatz "Auf die Frage: Was ist deutsch?" an den Deutschen beanstandete: "Selbstvergötzung" und "kollektiver Narzissmus". In der heutigen Situation ist stattdessen eine Verantwortungsethik gefordert im Umgang mit Muslimen und Juden, die in Deutschland leben. Belehrungen führen ins Nichts.

Deutsche Politiker, die die Welt vor Islamophobie schützen wollen, übersehen geflissentlich, wie im eigenen Land der Antisemitismus ungeahndet in der Islamgemeinde gedeiht. Während des Gazakrieges 2014 wurden 1596 antisemitische Straftaten von Muslimen verübt. In diesem Zeitraum hat kein einziger Jude einem Araber etwas angetan. Und wie reagiert die ansonsten belehrende Politik hierauf? Die Zeit vom 9. Februar 2017 schrieb: "Antisemitische Taten werden, wenn sie von Zuwanderern begangen werden, als politisch motivierte Ausländerkriminalität verbucht und tauchen in der Antisemitismusstatistik gar nicht auf." Ein Jahr vor dem zitierten Artikel berichtete der Spiegel: "Übergriffe auf Juden mehren sich", aber sie werden als solche "oft nicht erfasst". Warum?

Die Antwort lautet: Weil die Täter Araber und keine deutschen Nazis sind. Ein deutscher Richter sprach nach ­diesem Spiegel-Bericht antisemitische Täter frei, wies sogar den Vorwurf des Antisemitismus zurück mit dieser Begründung: "Die Täter hätten nur die Aufmerksamkeit auf den Gazakonflikt lenken wollen.» Ich füge hinzu: Das ist nicht das, was Deutsche gern Einzelfall nennen, sondern die Regel im heutigen Deutschland. Arabischer Antisemi­tismus wird nicht nur verdeckt, sondern als solcher statistisch gar nicht erfasst, auch strafrechtlich nicht verfolgt. Ich frage provokant: Haben die Deutschen ihren Mord an Juden vergessen?

Angst vor den Deutschen

Als ein muslimischer und in Deutschland lebender Migrant habe ich nicht nur vor totalitären Islamisten Angst, sondern auch vor solchen Deutschen, die auf eine kranke Art und Weise mit ihrer Mördervergangenheit umgehen. In meinem in den Jahren 2007 bis 2010 am Forschungsinstitut des Holocaust-Museums Washington D. C. angefertigten und 2012 von Yale University Press veröffentlichten Buch «Islamism and Islam» erfasse ich sechs Säulen der islamistischen Ideologie, unter denen der islamisierte Antisemitismus besonders herausragt. Ich komme darin zu dem Ergebnis, dass der Islamismus der neue antisemitische Totalitarismus des 21. Jahrhunderts ist. Wie gehen Deutsche mit dieser Gefahr um? Welche Lehren haben sie aus Auschwitz gezogen?

Meine Autorität bei der Beantwortung dieser Frage ist Adorno mit seinem Aufsatz «Erziehung nach Auschwitz». Für Adorno war Auschwitz eine Barbarei, die bleibt: "Diese Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern." Wodurch dauern sie fort? Adorno meint, die grösste "Gefahr einer Wiederholung" besteht, solange man "der blinden Vormacht aller Kollektive" nicht entgegenarbeitet. Die Juden Berlins werden auch heute nicht nur als Kollektiv definiert, sondern sie haften auch – eben als Kollektiv – für die Taten der in Israel lebenden Juden, die wieder als Kollektiv bestraft werden sollten. Das ist das Narrativ der deutschen Wahrnehmung arabischer antisemitischer Straftaten. Die Bestrafung der Juden erfolgt durch das Kollektiv der arabischen Diaspora-Muslime in Berlin und anderen deutschen Städten. Diese antisemitischen Verbrechen werden als Ausländerkriminalität aufgeführt, nicht als antisemitische Straftaten, die sie in Wirklichkeit sind.

Meine zweite Frage lautet: Wie sühnen Deutsche den Mord an sechs Millionen Juden? Für einen Unbeteiligten, wie ich es bin, ist die Vehemenz der deutschen Willkommenskultur unverständlich, ja nicht einmal nachvollziehbar. Sie veranlasst mich, nach den Ursachen zu fragen. Die Zeit gibt in ihrer Ausgabe vom 28. Januar 2016 mit dem Titelblatt "Sind die Deutschen verrückt oder ist es der Rest der Welt, der keine Flüchtlinge aufnimmt?" folgende Antwort: "Die an ihrer traumatischen Vergangenheit leidenden Deutschen wollen sich von ihrem Makel befreien und haben sich darum in eine völlig irrationale Willkommenskultur gestürzt. Gewissermassen von Auschwitz direkt zum Münchner Hauptbahnhof." Von September bis Dezember 2015 versammelten sich Tausende vom "Irrsinn der irrationalen Willkommenskultur" befallene Deutsche, um Muslime aus Nahost, Zentralasien und Nordafrika willkommen zu heissen; sie taten dies nicht aus humanitären Gründen, sondern als Sühne für den Mord an sechs Millionen Juden, jedoch ohne zu wissen beziehungsweise wissen zu wollen, dass sie Antisemiten willkommen heissen.

Die Feststellung eines muslimischen Antisemitismus ist kein Vorurteil, sondern das Ergebnis einer Forschung in 22 islamischen Ländern, die ich in den USA veröffentlicht habe. Auf dieser Basis kann ich bestätigen, was die Zeit vom 9. Februar 2017 feststellt: Es gebe einen Anlass, die «Gefahr zum Thema zu machen, die Hunderttausende arabische Flüchtlinge darstellen». Warum? «Weil sie durchweg aus Ländern stammen, in denen der Antisemitismus so selbstverständlich ist wie essen und trinken».

Eine moralistische Politik

Nun komme ich zur dritten und letzten Überlegung: Deutsche Linksparteien und ihr Verhältnis zum Holocaust. Die Basler Zeitung hat diese Thematik im Januar am Beispiel der Grünen aufgenommen: "Die Partei der Schadenskompensation". Nach deren Verständnis solle sich der demokratische Staat "massgeblich über den Zivilisationsbruch" definieren mit "dem Schluss daraus: 'Nie wieder!'". Das ist "ein Phänomen einer moralischen Politik", argumentiert die BaZ. Entsprechend verstehen sich die Grünen als "ein erzieherisches Korrektiv der Gesellschaft".

Wie reagieren Grüne in dieser Funktion darauf, dass die neuen Antisemiten nicht mehr vorwiegend alte Nazis, sondern Islamisten sind, die auch aus dem Lager der Flüchtlinge stammen? Seit 2015 treten die Grünen moralisch weniger als eine Partei des "Nie wieder!" denn als Advokaten der islamischen Flüchtlinge auf.

Fakt ist, dass die islamischen Flüchtlinge aus Nahost den Antisemitismus mit sich aus ihrer Region bringen. Die Links-Grünen sind dreist genug, eine Entschuldigung für den islamistischen Antisemitismus zu bieten. Diese Entschuldigung lautet: Diese Muslime seien gar nicht gegen die Juden, sondern nur gegen den Staat Israel und gegen den "rassistischen Zionismus". Wenn das stimmen würde, wäre Theodor Herzl ein Rassist, was er aber niemals war. Die angebliche Differenzierung zwischen Antisemitismus und Antizionismus findet aber nicht statt. Aus meiner Forschung geht hervor, dass die Begriffe Jahudi/Jude und Sahyuni/Zionist von Arabern in der arabischen Sprache Synonym verwendet werden.

Eine beunruhigende Aussage

Der aus Wien stammende, heute in Jerusalem lebende Antisemitismusforscher Manfred Gerstenfeld stellt einen aggressiven Antisemitismus unter den muslimischen Migranten fest und macht eine sehr beunruhigende Aussage: "Im 21. Jahrhundert wurden alle in Europa begangenen Morde an Juden, die getötet worden waren, weil sie Juden waren, von Muslimen begangen."

Bei einer Diskussion der Bonner Akademie im Oktober des vergangenen Jahres habe ich einen Teil der in diesem Artikel enthaltenen Ergebnisse präsentiert und die Frage aufgeworfen: Sind das die "neuen Deutschen"? Marina Münkler, die auf dem Podium anwesende Mitautorin des Buches "Die neuen Deutschen", rief aus: "Herr Tibi, Sie stereotypisieren die Flüchtlinge!" Es ist eigenartig, wenn eine deutsche Person einem Syrer vorwirft, die eigenen Landsleute zu stereotypisieren, wenn er sich Sorgen macht über eine antisemitische politische Kultur, die diese mit sich nach Europa bringen.

Der grösste jüdische Historiker des 20. Jahrhunderts, Bernard Lewis, belehrt uns im Aufsatz "The New Antisemitism": "Ein Antisemitismus gleich europäischen Stils wächst in der arabischen Welt […]. Das ist der neue arabische Antisemitismus, der dort gedeiht […]. Dieser neue Antisemitismus hat nichts mit dem Palästinakonflikt zu tun." Ich empfehle allen, die behaupten, der arabisch-islamische Antisemitismus sei nur ein Ausdruck der Wut gegenüber Israel, diesen Aufsatz zu lesen.

Der neue Antisemitismus

Auch der britische Journalist Daniel Johnson hat einen sehr bemerkenswerten Artikel im Wall Street Journal vom 1. November 2016 über diese Problematik veröffentlicht, worin er zunächst getrennt voneinander zwei Erscheinungen in Europa feststellt: "increasingly visible Antisemitism" und "Europe’s rapidly growing Muslim population". Dann stellt er einen engen Zusammenhang zwischen beiden Phänomenen, also dem zunehmenden Antisemitismus und der wachsenden Islam­gemeinde in Europa her.

Ich bin ganz gewiss kein Anhänger von Donald Trump, möchte aber dennoch mit folgender Beobachtung abschliessen. Deutsche Politiker, die Washington besuchen, verlieren alle Massstäbe und belehren die Trump-­Administration auf deutsch-meisterliche Art über die Gefahren der Islamophobie; sie übersehen hierbei jedoch geflissentlich, wie der islamistische Antisemitismus in ihrem Land floriert. Diese Politiker geben an, Muslime als Minderheiten zu verteidigen. Und wer verteidigt die individuellen Juden vor dem Kollektiv der Islamisten? Und was haben die Deutschen aus ihrer Geschichte gelernt? Wie steht es um den Vorsatz "Nie wieder!"?

Bassam Tibi, 72, ist emeritierter Professor für Internationale Beziehungen. Er ist Autor des Buches "Europa ohne Identität? Europäisierung oder Islamisierung", das 2016 im ibidem-Verlag erschienen ist. Dieser Beitrag erschien zuerst in der Basler Zeitung hier.

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