Interview / 21.01.2019 / 15:30 / Foto: Hohum / 5 / Seite ausdrucken

„Die Regierung wird das Ganze weiter hinauszögern“

Theresa Mays Brexit-Abkommen ist am Widerstand des House of Commons gescheitert. Die britische Regierung wirkt planlos. Hat die politische Klasse überhaupt vor, das Ergebnis des Referendums umzusetzen? Wie ist die Stimmung in Großbritannien, und wie kann es weitergehen? Kolja Zydatiss sprach mit Achse-Autor Benny Peiser, der seit 25 Jahren in England lebt.

Kolja Zydatiss: Das britische Unterhaus hat vergangene Woche das Brexit-Abkommen abgelehnt, das die britische Premierministerin Theresa May Ende November mit den 27 EU-Staaten ausgehandelt hat. Warum haben die Abgeordneten den Vertrag zu scheitern gebracht?

Benny Peiser: Eine Mehrheit der Abgeordneten im Unterhaus ist seit jeher gegen einen Austritt aus der EU. Sie geben das zwar nicht offen zu, versuchen aber mit allen Mitteln, die Uhr zu stoppen und einen Austritt am 29. März zu verhindern. Das EU-May Abkommen erlitt eine derart große Niederlage, weil zudem die stärksten Brexit-Befürworter auch gegen das Abkommen stimmten. Diese Gruppe von etwa 120 konservativen Abgeordneten lehnt den vorliegenden Vertrag kategorisch ab, weil sie die darin enthaltenen Fesseln nicht akzeptieren. Sie fürchten, dass dieses Abkommen Großbritannien zu sehr an die EU bindet und mithin eine wirkliche Unabhängigkeit und eine unabhängige Handelspolitik verhindert.

Wie kann es jetzt weitergehen? Was sind die wahrscheinlichsten Szenarien?

Das ist schwer vorauszusagen. Da die Mehrheit der Abgeordneten gegen einen Brexit ist, stehen die Chancen, dass es zu einem Austritt am 29. März ohne Abkommen kommt, eher schlecht. Vermutlich stimmen die Abgeordneten für eine Verlängerung des Paragrafen 50 in der Hoffnung, Brexit langfristig verhindern zu können. Sollte es dazu kommen, wird es vermutlich zu einer schweren politischen Vertrauenskrise fuhren, da die Brexit-Befürworter einen solchen Schritt als Verrat der demokratischen Volksabstimmung ansehen würden. Der Antrag auf eine Verlängerung des Paragrafen 50 kann allerdings nur von der Regierung an die EU gestellt werden. Es ist freilich ungewiss, ob Theresa May ein solches Manöver, das nur mit Hilfe des Labour-Chefs Jeremy Corbyn und gegen ihre eigene Partei erfolgen könnte, überstehen würde. Denn die Brexit-Befürworter könnten sie dann tatsächlich stürzen und Neuwahlen erzwingen.

Inkompetenz und Wankelmütigkeit

Wie ist die Stimmung in Großbritannien? Erleichterung, weil der May-Deal als „Fake-Brexit“, als Verrat am Wählerwillen, aufgefasst wurde? Oder dominiert die Angst vor den Folgen eines ungeregelten EU-Austritts?

Das Erstaunliche an der Stimmung hierzulande ist, dass sich die Stimmung in der Bevölkerung seit dem Referendum vor zwei Jahren so gut wie gar nicht verändert hat. Wenn es um den Brexit geht, sind die Briten also weiterhin fast genauso gespalten wie zuvor. Die Angstmacherei vor einem Austritt ohne Abkommen hat wenig Wirkung gehabt, und die beiden Lager sind verhärtet wie eh und je. Zwar sind die meisten Leute zunehmend entsetzt über die unglaubliche Inkompetenz und Wankelmütigkeit Theresa Mays und ihrer Regierung. Allerdings ist die Labour Opposition unter Jeremy Corbyn ein genauso zerstrittener Haufen von Amateuren und Chaoten.

Was wären die konkreten Folgen eines „No-Deal“ Brexit? Welche Vorbereitungen trifft der britische Staat für dieses Szenario? Bereiten sich auch Unternehmen und einfache Bürger auf einen ungeregelten Austritt vor? Wenn ja wie?

Zur Frage eines No-Deal Brexit ist die Regierung tief gespalten. Zwar gibt es Vorbereitungen der Regierung, aber das Finanzministerium, geführt von einem Brexit-Gegner, hat recht lange gezögert, die notwendigen Ausgaben zu bewilligen. Die konkreten Folgen eines Austritts ohne Abkommen lassen sich nicht vorhersagen, denn viel hängt davon ab, ob die EU stur oder flexibel darauf regieren würde. Ich vermute allerdings nicht, dass es dazu kommen wird. Ich habe gegenüber meinen Bekannten seit mehr als einem Jahr die Prognose gewagt, dass die Regierung letztendlich einknicken und das Ganze weiter hinauszögern wird. Wir werden bald sehen, wie gut es mit meiner politischen Einschätzung steht. Allerdings sind die politischen Risiken eines solchen Vorgehens kaum vorherzusehen, da die Hälfte der Briten darin einen Verrat der politischen Klasse am demokratischen Willen der Briten sehen würde. 

Deutsche Medien schildern die Möglichkeit eines ungeregelten Austritts in apokalyptischen Tönen. Aber gibt es bei „No-Deal“ nicht auch einen Lichtblick, in dem Sinne, dass die Verhandlungsposition der Briten gestärkt wird, und sie in Zukunft einen faireren Deal mit der EU aushandeln können? Einen Deal, der sinnvolle ökonomische Kooperation erlaubt, aber auch dem Wunsch der britischen Wähler nach größer Souveränität Rechnung trägt?

So etwa sehen es auch die Brexiteers. Doch sie sind innerhalb der Regierung und des Parlaments in der Minderheit.

Radikalisierung der Stimmung

Der EU-Austritt muss am 29. März 2019 rechtskräftig werden, egal ob es ein Austrittsabkommen gibt oder nicht. Seit dem Referendum 2016 gab es jedoch immer wieder politische Bestrebungen, den Brexit komplett zu verhindern. Auch heute meinen radikale Brexit-Gegner, die britische Regierung solle den Austrittsprozess von sich aus stoppen oder das Referendum wiederholen. Wie wahrscheinlich ist eine solche Entwicklung?

Der EU-Austritt kann sehr wohl und wird vermutlich kurzfristig gestoppt werden. Langfristig ist aber ein Verbleib Großbritanniens in der EU so gut wie ausgeschlossen. Die Mehrheit der Briten will einfach nicht mehr in diesem Verein bleiben. Sie sehen die EU als ein langsam sinkendes Schiff, das weder wirtschaftlich noch technologisch mit dem Rest der Welt mithalten kann und in Zeitlupentempo am zerbröckeln ist. Selbst die meisten Briten, die im Referendum für einen Verbleib stimmten, haben dies mehr aus Angst vor den wirtschafteten Folgen des Austritts als aus Liebe zur EU getan. Ein Verrat des Brexit Referendums würde vermutlich zu einer Radikalisierung der Stimmung und einer weiteren Verhärtung der Lager führen. Früher oder später wird dann eine neue Regierung gewählt werden (und mit einer klaren Mehrheit im Parlament), die dem demokratischen Willen des britischen Volkes nachkommen und das Land in die Unabhängigkeit führen wird. Daran kann es meines Erachtens keinen Zweifel geben, selbst wenn es durch die wahrscheinlichen Verzögerungen des derzeitigen Parlaments noch ein paar Jahre dauern könnte.

Herr Peiser, vielen Dank für dieses Gespräch!

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Eugen Karl / 21.01.2019

Der Bohei, der um den britischen Austritt gemacht wird, ist kaum mehr zu ertragen. Markus Krall hat auf Tichys Einblick sehr schön dargelegt, warum alle an die Wand gemalten Katastrophenszenarien nicht eintreten werden. Die Briten wollen (zu recht!) raus aus der Zwangsgemeinschaft, und die Bürokrazia Europeana will vor allem, daß sich niemand traut, es den Briten nachzumachen. Deswegen aber hat das Brüsseler Zentralkommitee vor nichts mehr Angst als vor einem No-deal-Brexit, denn auch dieser wird den Briten wenigstens mittelfristig nicht schaden. Und dann? Einer nach dem anderen wird das sinkende Schiff verlassen. (Nur unsere von allen guten Geistern verlassene Regierung wird mit Frankreich zusammen einen Superstaat der schnelleren Geschwindigkeit vom Zaun brechen und zukünftig französische Schulden begleichen.) Der No-deal-Brexit ist das beste Druckmittel für GB, nicht für die EU. May sollte diese Karte spielen.

Wolfgang Richter / 21.01.2019

Entgegen der Schlußfeststellung wird “hier” doch täglich verkündet -vor der Handvoll meist jüngerer Leute in London, mit EU-Fahne demonstrierend- daß das Ergebnis der “Brexit-” Abstimmung ein Betriebsunfall gewesen sei und die Briten heute sicherlich mehrheitlich für einen Verbleib stimmen würden. Wieviele “Claas’ens” werkeln in hiesigen Redaktionen noch?

Martin Landvoigt / 21.01.2019

Was hält Europa - nein: die EU - zusammen? Zum Einen sind es ideologische Motivlagen, gepaart mit Machtgelüsten der Eliten, die die üppigen Gehälter der Brüssler Bürokratie gerne mitnehmen. Zum Anderen sind es die Empfängerländer, die im goldenen Käfig sitzen und von den Transferzahlungen abhängig sind. Der Glaube an die Vernunft der Eliten ist auf breiter Front verschwunden. Es ist der Katzenjammer, der trotzdem nicht weiter führen kann. Die Briten haben die suizidale Merkelpolitik satt. Sie wollen sich nicht gängeln lassen. Und darum wird es auch eine Lösung - auf kurz oder lang - geben.

Helmut Driesel / 21.01.2019

  Da wäre doch noch eine Möglichkeit: England und Wales bilden wieder die Gemeinschaft Britannien und treten aus dem Staatengebilde Großbritannien aus. Da bräuchten sie die Europäer gar nicht zu fragen. Man müsste auch keine Verträge ändern. Das würde in meinen Augen vieles vereinfachen. Ob das nun ein temporärer Zustand ist, das können die Beteiligten später bearbeiten.

Andreas Rühl / 21.01.2019

Man sollte an der Stelle daran erinnern, dass die Haltung “der” Briten zum nationalsozialistischen Deutschland durchaus nicht einhellig ablehend war - teils aus Furcht vor einem (weiteren) großen Krieg, teils auch, weil man die faschistischen Bewegungen durchaus auch als Bollwerk gegen den Bolschewismus ansah. Als GB dann im Krieg mit Deutschland war, war Churchills Hauptargument, mit dem er den Widerstandwillen der Bevölkerung nährte, die Angst vor einer deutschen Hegemonie, den Verlust der Eigenständigkeit, der Souveränität GB. Damit konnte er die breite Mehrheit der Briten hinter sich bringen, nicht mit irgendwelchen “weichen” Ideen von Menschenrechten und Demokratie. Die Briten haben gegen Hitler gekämpft, um Briten bleiben zu können und vor allem: um selbst entscheiden zu können, was ein Brite ist und wie er leben will. Von Anfang an haben die kontinentalen Politiker diesen (fortbestehenden) Impetus der breiten Mehrheit auf der Insel völlig unterschätzt, sie haben nicht begriffen, dass es den Briten nicht darum geht, ein paar Befugnisse nach Brüssel abzugeben, sondern darum, ihre britische Seele zu bewahren, ihre ureigenen Traditionen. Was soll Brüssel auch London von Demokratie erzählen? Von Menschen- und Bürgerrechten? Da kennen sich die Briten in der Tat schon etwas länger und etwas besser mit aus. Ich denke, in GB weiß man sehr genau, dass der Verbleib in der EU auch Vorteile hätte - aber zu welchem Preis? Es war der Grundfehler der anderen Europäer, diesen Preis immer weiter in die Höhe zu treiben.

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