Richard Wagner / 19.09.2011 / 08:39 / 0 / Seite ausdrucken

Die neuen Berliner Freiheiten

Das Berliner Wahlergebnis hinterlässt zwei kleine Sensationen: Die FDP als Splitterpartei und die Piraten als Hoffnungsträger der Facebook-Jugend. Die FDP hat zwar eine große Vergangenheit, aber war sie in ihrer Struktur jemals mehr als nur eine Splitterpartei?

In Deutschland hat der Liberalismus angelsächsischer Prägung niemals richtig Fuß fassen können. Unsere Tradition ist unverkennbar eine nationalliberale. Und das ist etwas anderes. Wenn es in dem einen Fall um die individuelle Freiheit und ihre Geltung geht, geht es im anderen um die freiheitliche Verfasstheit der Gesellschaft und ihres Ordnungsrahmens. So hatten ein Walther Rathenau und ein Ralf Dahrendorf recht wenig gemeinsam.

Die Bedeutung der FDP in der Geschichte der Bundesrepublik bestand auch nie in ihrer liberalen Ideologie, sondern in ihrer Rolle als Instrument der Politik im Drei-Parteien-System, als sie das Zünglein an der Waage war. Wer die FDP auf seiner Seite hatte, konnte die Regierung bilden. Von diesem Leitsatz der deutschen Nachkriegspolitik profitierten abwechselnd die beiden großen Volksparteien: CDU-CSU und SPD.

Beide waren am Bestand der FDP interessiert, und so kam es, dass existenzerhaltende Maßnahmen als selbstverständlich angesehen wurden. Es war der stillschweigende Zweitstimmenbonus, den man der FDP gewährte. Ohne diese Zweitstimmenregelung im Wahlgesetz Deutschlands gebe es die FDP schon lange nicht mehr.

Sie lebte von dieser Regelung und die anderen profitierten davon. Die freien Demokraten waren zunächst Mehrheitsbeschaffer der Konservativen, dann der Sozialdemokraten und schließlich wieder der Konservativen. Die FDP stellte kompetente Minister, vor allem aber den Supermann der deutschen Außenpolitik der Nachkriegszeit, Genscher. Ohne sie hätte es keine sozial liberale Koalition gegeben, und damit keinen Kanzler Willy Brandt. Ein Jahrzehnt später aber auch keinen Kanzler Kohl.

Schein und Sein waren selbst in der Politik selten so nahe bei einander wie im Fall FDP. Die Erweiterung des Parteienspektrums brachte die große Krise. Sie hatte plötzlich nicht mehr die Lizenz zur Mehrheitsbeschaffung. Und die urbane, die Großstadt-Partei, die sie gern gewesen wäre, wurde sie auch nicht. Ihr Image war das einer Lobby, und das konnte in Deutschland nicht gut gehen. Die Deutschen benötigen die moralische Ausrede um den Kapitalismus zu akzeptieren. Man verschweigt seine Einkünfte verschämt.

Zur urbanen Partei wurden stattdessen die Grünen, die Erben von Herbert Gruhl, Baldur Springmann und Petra Kelly wurden zu Rotweinkennern. Sie, die FDP, hingegen stand bald unter Generalverdacht, und wenn noch ein Beweis dafür nötig gewesen wäre, dass dieser Partei ihr Sinn abhanden gekommen ist, dann ist dieser Beweis durch die jetzige Regierungskoalition endgültig zur Vorlage gebracht.

Die Freiheit ist bekanntlich keine Angelegenheit des Augenmaßes, sie ist, vor allem in ihren Anfängen, anarchistisch. Seit der Etablierung der Grünen hat sich eine Lücke für dieses Potenzial ergeben. In diese Lücke sind nun die Piraten getreten. Sie haben ein bedeutendes Thema politisiert, die Freiheit in den Zeiten des Internets. Ob sie daraus eine Plattform für sich als Partei schaffen können, lässt sich noch nicht einschätzen. Das Thema jedenfalls ist eines, an dem in Zukunft die Politik nicht vorbeikommen wird.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Richard Wagner / 19.07.2016 / 09:13 / 6

Aus dem Zeitalter der Dummheit

Dass wir im Zeitalter der Dummheit leben, wird uns beinahe täglich vor Augen geführt. So, wenn wir glauben, einen feinen Unterschied zwischen Islam und Islamismus…/ mehr

Richard Wagner / 09.03.2016 / 20:00 / 1

Femme Fatal und Landtagswahl

Noch nie war die Politik in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs so weichenverstellt. Es ist das späte Ergebnis des langen Aufstiegs und noch…/ mehr

Richard Wagner / 11.10.2015 / 06:30 / 0

Traumland Syrien

Ich hatte dieser Tage einen bösen Traum: Man hatte mir die Wohnung gekündigt und meinen Job war ich auch schon seit einer Weile los. Natürlich…/ mehr

Richard Wagner / 29.05.2015 / 07:52 / 1

Warum Bachtin nicht auf den Karneval der Kulturen geht

In Berlin ist der Karneval der Kulturen ein weiteres Mal zu Ende gegangen, und es war schön wie eh und je, wenn die Kreuzberger Straßen…/ mehr

Richard Wagner / 19.11.2014 / 10:51 / 0

Krieg um die Fifth Avenue?

“Für das Individuum mit seinen Wünschen nach Unversehrtheit und Glück ist der Krieg immer sinnlos.  Aber während er das individuelle Leben zerstört, kann er das…/ mehr

Richard Wagner / 12.09.2014 / 11:33 / 4

Von allen guten Geistern

Früher, als die Kirche noch für die öffentliche Moral zuständig war, und damit auch für die Identifikation des Bösen, war im Gegenzug auch die Zuständigkeit…/ mehr

Richard Wagner / 09.09.2014 / 11:45 / 6

Der Narr und die Barbarei

Wer am Morgen Radio hört, ist selber schuld, und wer am Morgen in Berlin Radio hört, muss den Verstand verloren haben. Wie ich, heute. Kaum…/ mehr

Richard Wagner / 24.07.2014 / 08:06 / 3

Die rechten Migranten formieren sich

Wenn Palästinenser in deutschen Städten demonstrieren, geht es immer öfter nicht nur gegen den Staat und die Staatsidee Israels, sondern gegen jüdisches Leben in Deutschland.…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com