“Die Menschheit gerät außer Kontrolle!” Na ja, fast.

Was ist jetzt schon wieder geschehen? Hat der Superdienstag in den USA die Erdachse verschoben? Wurde im Kreml endlich der lange vermutete, direkte Zugang zur Hölle entdeckt? Hat Claudia Roth etwa wieder bittere Tränen weinen müssen? Und wenn ja: Waren es die Böreks? Es ist alles noch viel schlimmer. Einen Skandal hat es gegeben, und das ausgerechnet in Köln. Mal wieder. Diese Stadt ist sowas von gebeutelt; nicht erst seit diesem Jahr, aber 2016 volle Kanne. “Philharmonie Konzert-Eklat! Publikum brüllt: „Reden Sie gefälligst Deutsch!“” titelt der Express.

Das macht neugierig. Philharmonisches Gebrüll, was könnte es schlimmeres geben, bedeutet Philharmonie doch immerhin „Liebe zur Harmonie (zur Musik)“. Gebrüll hingegen, wer denkt da nicht gleich an die Sachsen? Was suchen die in Köln? Finden die das überhaupt? “Een Sachse ist immer dabei?” Oder waren es in Wirklichkeit vielleicht – horribile dicto! – Düsseldorfer?

Was ist also geschehen? An Fakten liegen vor: der iranische Cembalist Mahan Esfahani spielte am vergangenen Sonntag in einem Nachmittagskonzert neben Stücken von Johann Sebastian Bach, Fred Frith und Henryk Mikolaj Górecki die Komposition Piano Phase des amerikanischen Komponisten Steve Reich. (Hier kann man das Stück auf zwei Piani vom belgischen Tinnitus Duo (sic!) gespielt hören.) Ich bin ein großer Fan von Steve Reich, aber das tut nichts zur Sache; ich kann jeden verstehen, der seine Minimal Music nicht mag.

Piano Phase ist nicht kakophonisch, arhythmisch oder sonstwie verstörend, es ist ein achtzehnminütiger Fluss weniger, sich ständig wiederholender Töne mit minimalsten Veränderungen. Für Reichs Musik nicht ungewöhnlich. Ich würde das dahinter stehende Prinzip “Selbstähnlichkeit” nennen. Für jeden Interpreten ist Piano Phase eine große Herausforderung, die ein perfektes Timing erfordert. Was mich an dem Stück zusätzlich fasziniert ist die Tatsache, dass die Musik auch nach dem abrupten Ende noch eine Zeitlang im Kopf des Zuhörers nachklingt, der Komponist es also erreicht, selbst die anschließende Stille mit in seine Komposition einzubinden. Würde man das Stück visualisieren, stelle ich mir darunter so etwas vor.

Aber egal. Es gab im (nicht das) Publikum Leute, die das Stück nicht mochten. Man hätte nun  so unauffällig wie möglich gehen können, oder auch in das Programmheft schauen, das eventuell verriet, die Tortur sei nach 18 Minuten vorüber. Es kam anders. Nach wenigen Minuten entwickelte sich aus dem Publikum heraus etwas, das Mahan Esfahani als “Noisy dissent” beschreibt. Er muss davon überrascht gewesen sein, denn er beschreibt die Umstände des Konzertes so:

“The Sunday afternoon concert [...] is the concert where typically older members of the educated middle class have their subscription tickets for years and go to hear the requisite amount of pleasant music in ‘their’ Philharmonie. I figured that we were more or less giving them that.” (Der vollständige Text Mahan Esfahanis ist hier zu lesen). Esfahani, der, durch Kopfhörer gegenüber dem Publikum abgeschirmt, den Noisy dissent erst nach einigen Minuten bemerkte, beschreibt das, was er danach erlebte, als Pandämonium von einem Ausmaß, wie er es noch nie in einem klassischen Konzertsaal erlebt habe.

Man muss nicht dabei gewesen sein, um seine Beschreibung nachvollziehen zu können. Einen guten, wenn auch nicht akustischen Eindruck des Pandämoniums gewinnt man durch das Lesen von  Kommentaren auf der Facebookseite der Kölner Philharmonie. Dass, wie man dort erfahren kann, die Menschheit außer Kontrolle gerät, wissen Sie ja dank der Überschrift schon. Und was kann man dagegen tun? Ein Kommentator hat die Antwort: “Warum schmeissen Sie diesen grenzdebilen Abschaum nicht raus, erteilen lebenslanges Hausverbot?” Wer mit grenzdebilem Abschaum gemeint ist, wird in den Kommentaren auch erklärt: “In Zeiten von Pegida und AfD trauen sich offensichtlich immer mehr Biedermänner und -frauen ihre Reichsmusikkammergesinnung offen zu artikulieren”. Denn es herrscht eindeutig “Angst vor Fremdem, ungesunde Mischung, auch hier.”

Dass jemand in eine vom Interpreten angeregte Diskussion hinein “Sprich deutsch!” gerufen hat (haben soll, die Informationen sind noch unklar und widersprüchlich, Esfahani selber erwähnt es gar nicht) gibt dem Pandämonium natürlich eine ganz besondere Brisanz. Dankbar nahmen dann auch mehrere Presseorgane diese vermeintliche Vorlage gleich auf (wie stets gerne dabei der Focus: “Publikum erzwingt Konzert-Abbruch: “Reden Sie doch gefälligst Deutsch!”). Dass Orchester-Manager Schäfsmeier sich zwar empört über den Plebs im Publikum zeigt, zugleich aber auch erklärt, er wehre sich dagegen, den Zuschauern Rassismus zu unterstellen. “Ihm zufolge war eher die ungewöhnliche Musik Auslöser für den Eklat in der Philharmonie,” schreibt die Rheinische Post, was in den teils hysterischen Online-Kommentaren natürlich nicht zur Kenntnis genommen wird. Statt dessen heißt es bei Facebook, das aufrührerische Abonnentenvolk sei von der selben Art wie Leute mit Ariernachweis bis zurück in die 5. Generation. Ein anderer Kommentator präzisiert die Geschehnisse und die Verantwortlichen und hat auch gleich Lösungen parat: “Faschismus ging schon immer von den Oberschichten aus. Das ist auch hier nicht anders. Wer etwas wie “redet Deutsch” ruft, sollte lebenslang aus allen Kulturstätten in Deutschland ausgesperrt werden. Und wer neben so einem Faschisten saß und ihm nicht ordentlich eins reingesemmelt hat, ist kein Stück besser.” Und besonders gut hat mir dieser Kommentar gefallen: “Offensichtlich haben auch gewisse kultivierte Menschen das Leid von 1939 – 1945 vergessen!”

Muss man denn, Clausnitz noch ganz warm, schon wieder fragen: “Kann man nach X noch Gedichte schreiben?” Muss man nicht der Kommentatorin bei Facebook von Herzen zustimmen, die konstatierend überlegt: “Dieses Publikum ist aber nur leider Reflex unserer Gesellschaft. Vielleicht sollten wir das erst ändern.” Das? Das Publikum? Ändern? Nein, muss man nicht. Besorgt zu sein – in einem gewissen Maße – allerdings ist nicht ganz falsch. Besorgt, weil der Ablauf des Abends sowie die Kommentare zum Skandälchen die tiefe Gespaltenheit der deutschen Gesellschaft im Jahr 2016 erkennen lässt.  Nun dient schon ein einfacher Aufruhr im Konzertsaal dazu, die “Nazis” in der Gesellschaft anzuprangern. Es ist schon recht abenteuerlich, an welchen Ereignissen Bessermenschen ihr Bedürfnis festmachen, die Impertinenz ihrer säuberlichen Seelen zu demonstrieren.

Dass sie selber Teil des Abends waren, kommt ihnen gar nicht in den Sinn. “Vom Block N aus war mir nicht mehr möglich als “Schämt Euch!” zu rufen,” schreibt eine Frau bei Facebook. Nicht mehr möglich? Was will sie damit sagen? Dass Lärmen nicht reichte? Dass sie eigentlich lieber auf die Störer eingeprügelt hätte?

Man lese noch einmal aufmerksam die oben verlinkte Schilderung Mahan Esfahanis: “Most of the people who walked out or catcalled tended to be older men who clearly felt some sort of anger about having to listen to this piece. They were being shouted down by younger people – mostly women, in fact.” In fact: DIESES Pandämonium kann ich mir tatsächlich lebhaft und überaus plastisch vorstellen.

Dabei ist Hysterie heilbar. Mein Vorschlag zur Güte: Bei Wikipedia findet man einen längeren Eintrag zum Stichwort “Theaterskandale“. Die hat es nämlich schon immer gegeben, also schon viel länger als es AfD, Pegida und die sonstigen körperlichen und geistigen Wegbereiter des kommenden 4. Reiches gibt. Ob es 1664 die Uraufführung von Molières Tartuffe war oder 1861 die Premiere von Wagners Tannhäuser, ob Strawinskys Sacre de Printemps oder Ravels Bolero die Ohren derer, die nur Althergebrachtes kannten, empörten – irgendeine verletzte Seele kochte stets hoch, manchmal so sehr, dass eine Aufführung gar durch das Einschreiten der Polizei verhindert werden musste, da man um Leib und Leben von Publikum und Interpreten fürchtete. Oder Angst vor Staats- und Kirchenmacht hatte. Nein, ihr Bessermenschen, dass in Köln ebensolche Unwillensäußerungen laut wurden, ist nichts, das den Rassistenschrei rechtfertigt. Es ging einzig um die Musik (oder Unmusik, je nach Standpunkt) “Hätte er Händel gespielt, wäre das nicht passiert.” Dem Wort des Philharmonie-Geschäftsführers Jochen Schäfsmeier ist nichts hinzuzufügen. Und, liebe Bessermenschen, nicht vergessen: Ein Teil des Lärms, der zum Abbruch des Stückes durch Esfahani geführt hat, der wart ihr.

Noch mehr zum Thema Geist und Gelassenheit finden Sie auf Archi W.Bechlenbergs Blog "Herrenzimmer"

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Leserpost

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Michael Riepen / 03.03.2016

“die Impertinenz ihrer säuberlichen Seelen” - Grandiose Wortschöpfung! Irgendwo schreibt selbst (sinngemäß) Adorno, daß er sich manchmal die Zeit der heftigen negativen Reaktionen bei modernen Werken zurückwünscht ob der blassen Toleranz des heutigen Publikums, wo nicht gebuht und nur flach u. brav applaudiert wird.

Werner Gerhard Liebisch / 03.03.2016

Ich bin dem Vorfall dankbar, ich kannte Reich vorher noch nicht. Auf WDR 3 wurde heute schon ein Stück gespielt das mir sehr gefallen hat, electric counterpoint 2- slow. Eine bessere Werbung kann es doch nicht geben.

Eugen Karl / 03.03.2016

Solche Situationen entstehen einzig durch die Unart unserer Konzertveranstalter, ältere, klassische Musik (oder meinetwegen - Bach! - Barockmusik) mit ganz moderner “E-Musik” kombiniert in einem Konzert darbieten zu wollen. Der Grund ist: es gibt kein breites Publikum für diese moderne Musik, also glaubt man, diese Musik allein durch Kombinationen mit Bach & Co. einem breiteren Hörerkreis vorstellen zu können. Wer Bach hören will, muß, sozusagen als zweite Bezahlung, Reich mit ertragen. Das ganze entspringt ganz offenbar einem Kunstverständnis, das davon ausgeht, Kunst sei nicht für das Publikum, sondern dieses sei für die Kunst da. Dabei läge es nahe, moderne Musik sich dadurch bewähren zu lassen, daß man das Publikum nur über sie (ohne Bach!) abstimmen läßt, indem es kommt und zahlt und hört oder eben einfach wegbleibt. Und Bach bietet man dafür ganz ohne Reich, sondern meinetwegen mit Händel oder etwa Gluck dar. Das ist natürlicherweise das Naheliegende, und so wären auch alle zufrieden. Alle? Alle Hörer, die zu den jeweiligen Konzerten gingen. Weniger die Macher; denn entweder die moderne Musik findet sich damit ab, daß sie nun mal nur vor kleinen Auditorien spielt, oder sie ändert sich eben. Wenn keiner mir zuhören will, spiele ich eben allein, oder ich spiele, was andere hören wollen.

Philipp Tremblau / 03.03.2016

Horribile dictu, nicht dicto.

Horst Wenzel / 03.03.2016

Hallo, Herr Bechlenberg, Schöner Text! Wenn Sie das zweite “o” in “Horribile dicto” jetzt noch durch ein “u” austauschen, wird er noch schöner… Gruß H. Wenzel

Reinhard Haneld / 03.03.2016

Ach wie wunderbar – in Köln gibt es noch Musikfreunde, die sich über die klassische Moderne (zu der Steve Reich längst gehört) empören können! Viva Colonia! Aber eine kleine Besserwisserei nebenbei, gratis: Es heißt “horribile dictu”. Ansonsten alles gut. Wenn die Hysterisierung sich wieder in den Konzertsaal zurückzieht, besteht noch Hoffnung. Und Steve Reich? Ist doch klasse (und lehrreich). Nicht gut allerdings für Karnevalsmusik.

Max Mertens / 03.03.2016

Ich kenne das Stück und habe jüngst im Radio anläßlich einer WDR5-Aufbereitung dieses “Skandals” auch die Cembalofassung für wenige Minuten hören können. Als selbst älterer Mensch kann ich mir die Reaktion anderer “alter Knacker” gut vorstellen; weil: es ist unabweislich, daß die Klänge des Cembalos (volkstümlich auch “Eierschneider” genannt) in betagteren Gehörgängen und den anschließenden Nervenknoten so etwas wie den Effekt einer “chinesischen Wasserfolter” entfalten können. Dies ist bei der Klavierfassung um vieles weniger der Fall, da dort nicht ein derart penetranter Eindruck akustisch einpeitschender Peinigung entsteht. Künstlerisches Konzept etc. hin oder her: in der Cembalofassung ist das Stück ein negativ nagender Ohrwurm. Zum Aufblasen des Minimal-Vorfalls in die Richtung, die aus den oben zitierten Kommentaren ablesbar ist, möchte ich nur sagen: Narrenschiff!

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