David Harnasch / 10.11.2014 / 23:34 / 2 / Seite ausdrucken

Die Mauer muss weg! Die Mauer muss weg!

... so riefen die Leute, die an den Absperrungen zur Straße des 17. Juni standen und zur Einheitsfeier am Brandenburger Tor wollten und ihrem Frust auf tatsächlich ziemlich lustige Weise ein Ventil gaben. Ich wedelte mit der Paybackkarte dem Presseausweis und wurde von der netten Orderin gefragt: “Wollen Sie berichten?” “Na aber sicher will ich!” Und damit das keine Lüge war, hier nun die Mauerfalljubiläumsfeierkritik. Denn zu kritisieren gab es leider einiges. So sah die “wegen Überfüllung geschlossene” Straße aus, Blick in Richtung Goldelse. (Zum Vergleich: Dieselbe Straße als Fanmeile in nicht überfülltem Zustand.) Das gastronomische Angebot war zumindest bezüglich der Getränkeauswahl eine Hommage an Woody Allen: Ausschließlich Berliner Kindl, ausgeschenkt an zu wenigen und personell unterbesetzten Ständen. Die historischen Animationen waren allerdings schön, das Motto “Mut zur Freiheit” gefällt einem Liberalen selbstverständlich auch. Die “Lichtgrenze” war hingegen ein ziemlicher Reinfall: Statt Ballons mit integriertem Leuchtmittel zu verwenden, kamen passiv angestrahlte Ballons aus “Naturkautschuk” zum Einsatz. (Die Betonung des Materials mag erklären, warum die schönere Alternative nicht angeschafft wurde. Ist vermutlich total giftig und böse zur Natur.) Die waren also sofort nach ihrer “Freilassung” dunkel und verschwanden dann auch schnell unspektakulär im Nebel. Immerhin konnte man Gorbatschow und Lech Walesa bejubeln, was immer eine gute Idee ist. Schade, dass Bush Sr. nicht da war. Ich hätte gerne gesehen, wie er seinen verdienten Teil des frenetischen Jubels abbekommt, obwohl der Mob natürlich größtenteils gar nicht ihn adressiert…
Ob Jan-Josef-Liefers gut moderiert hat, entzieht sich meiner Kenntnis, da sein Mikro viel zu leise gepegelt war. Ich habe buchstäblich keine Ahnung, was der so erzählte. Der Ton war generell ein Problem: Die Boxentürme bei den Leinwänden waren defekt, man hörte dort nur die Höhen. Es standen aber auch Boxentürme zwischen den Leinwänden. Was bedeutet, dass man entweder gut sehen oder gut hören konnte, da vor der Leinwand der Sound aus den zwei benachbarten Türmen jeweils zeitversetzt ankommt, was schlicht unerträglich ist. Und schade, denn ein großes Lob verdient wirklich, wer das Lineup für diesen Abend zusammengestellt hat: Peter Gabriel habe ich leider verpasst, mag ich aber sonst auch. Dann Silly, denn eine Ostrockband muss natürlich sein bei so einem Anlass. Ich enthalte mich einer Wertung, ich kenne mich mit Ostrock nicht aus, und vielleicht ist Silly das Spitzenprodukt dieser Musiksparte. Dass allerdings Stones-Platten heiß begehrt waren in der DDR wundert mich Wessi nun auch nicht. Die Fantastischen Vier sind eine sichere Bank: Lange genug im Geschäft, um auch den mittleren Semestern Freude zu bereiten, unpeinlich für die jüngeren Zuschauer und zuverlässig in der Lage, große Stadien und Hallen in kurzer Zeit auf Betriebstemperatur zu rocken. Clueso ist allemal konsensfähig und zusammen mit Udo Lindenberg war das sogar eine ziemlich originelle Mischung. Besonders schön ein Kontrast: Zunächst Beethovens Neunte, Barenboim, Staatsorchester, dazu die Ode an die Freude aus hunderten Chorkehlen, Flakscheinwerfer in den Himmel, das Brandenburger Tor von hinten grell angestrahlt - eine gigantische Inszenierung des Welthits, der seit 190 Jahren nicht aus der Mode kommt. Dann der Bruch: Die jungen Musiker Sara Grotzki und Sander Stuart betreten die Bühne. Und spielen, zu zweit mit Violine und Violoncello die Nationalhymne, was grade wegen des Kontrasts zum vorangegangenen Bombast berührend war. Den Abschluss machte dann mein Lieblingsossi Paul Kalkbrenner mit einem einstündigen Liveauftritt, vor gigantischer Lightshow und einer inzwischen ansehnlichen Menge junger, tanzender Partygäste, denn irgendein Verantwortungsträger hatte inzwischen kapiert, dass leere Parties öde sind und die Zugänge freigegeben. Auch dies eine auf vielen Ebenen kluge Besetzung: Kalkbrenner ist einerseits durch seine maßgebliche Mitwirkung bei “Berlin Calling” der international bekannteste und wirkmächtigste Botschafter der Berliner Technoszene, genießt dort aber trotz seines Pop-Appeals nach wie vor uneingeschränkte Credibility. Was keineswegs selbstverständlich ist, wenn man einen Radiohit produziert hat, der aktuell die TV-Werbung eines Energieunternehmens schmückt. Und so ging ein Abend, der in vielerlei Hinsicht hätte besser organisiert werden können, doch noch sehr schön zuende. Für das 50-Jahr-Jubiläum rege ich an, die Organisation den Machern der Fanmeile zu übertragen, aber das musikalische Programm von exakt demselben Kulturbeamten erstellen zu lassen. Der obendrein eine Beförderung verdient, falls es in seinem Laden irgendwie leistungsgerecht zugehen sollte.

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Caroline neufert / 13.11.2014

Wahrnehmung ist zwar subjektiv, aber ich teile diese von Herrn Harnasch, wobei ich ohne Paybackkarte völlig ausgeschlossen war ... Ich “wagte” mich vom Bahnhof Friedrichstraße zum Potsdamer Platz. Bis zum Reichstag Massen - ok, Stimmung naja. zum Tor kam man nicht, klar stauten sich Massen im Ostteil, Musik hörte ich nicht. Nicht mal bei den Stelen kam man vorbei - alles abgesperrt mit gähnender Leere dahinter ... kurzzeitig stieg es in mir hoch, weil kein Durchkommen war,  wenn die Mauer wieder wäre, bin ich im Osten und Familie mit Katzen im Westen. —> die Veranstaltung war nichts. Und auch die Stimmung - nix. Nichts im sinne der Freude. Nichts im Sinne der Politik, des Bürgerrechts und auch nichts in Bezug zu den Pogromen. Die “Funzeln”, die hochstiegen, sagten alles.

Peter Bereit / 11.11.2014

Schlimm. Schlimm. Da stand er nun, der Herr Harnasch, - mit seinem Presseausweis und wunderte sich über die gähnende Leere auf der Straße. Dabei hätte er nur die Sonnenbrille und die Kopfhörer abzunehmen brauchen und hätte festgestellt, dass sich die ganze Sache auf der anderen, der östlichen Seite des Brandenburger Tors abspielte. Sinnigerweise dort, wo die Wende begonnen hatte. Das mag im Westen, ich vermute Herr Harnasch ist dort aufgewachsen und hat auch seinen Presseausweis von dort, zwischenzeitlich in Vergessenheit geraten sein. Deshalb an dieser Stelle nochmals meine Erinnerung. Die OSSIS haben die Mauer zu Fall gebracht. Zum Glück, muss es Herr H. dann irgendwann doch noch auf die richtige Seite geschafft und festgestellt haben, dass so viele Bürger erschienen waren, dass man Mühe hatte, beide Beine auf den Boden zu bekommen. Jedenfalls erging es mir so. Wohlgefühlt muss er sich aber auch hier nicht haben, denn wer feierlich gestimmte Berliner als Mob bezeichnet, der hat entweder ein emotionales oder aber ein intellektuelles Problem. Und dann noch Silly! Wer ist Silly? Muss man sicherlich nicht wissen, aber wenn man antritt, über die entscheidende Wende in der Geschichte des geteilten Deutschlands zu schreiben, stünde es einem gut zu Gesicht, würde man wissen, dass die auf der anderen Seite der Mauer, schon zu Zeiten der DDR, tatsächlich auch Musik machten und sich nicht nur über die SED ärgerten. Gute Musik. Gemacht auch von einer Spitzenband wie Silly. Nun ja. Ziemlich spät hat Herr H. dann doch noch etwas nach seinem Geschmack gefunden. Ich gönne es ihm. War ein reichlich beschissener, niederschmetternder Tag für ihn, mit blöden Luftballons, die nicht einmal leuchteten. Letzteres stimmt wirklich. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass der Mob, um im Sprachgebrauch des Herrn H. zu bleiben, nicht nur wegen der missratenen „Luftballonshow“, sondern wegen echten Gedenkens an den Mauerfall, gekommen war. Ist ja bald Weihnachten Herr Harnasch. Da kennen sie sich bestimmt besser aus und werden mehr Freude finden. Ich hoffe, sie gehen hin.

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