Kürzlich bekam ich von einem Mandaten das Buch „Die Herzlichkeit der Vernunft“ von Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge geschenkt. Das war die humorvolle Antwort auf meinen – ebenfalls nicht ganz ernst gemeinten – Stoßseufzer: „Warum sind Männer bloß immer so emotional?“. Die oft hyperventilierende Emotionalität, die jede sachlich–rationale Debatte unterbindet, dürfte Kern unserer Unfähigkeit sein, Probleme zu lösen. Wer zum Beispiel als Tatsache feststellt „Das Fenster ist schmutzig“, ist
a) ein klarer Fall von Fensterhasser,
b) ein Konservativer (weil nur altmodische Leute saubere Fenster haben wollen),
c) wahrscheinlich sogar ein Neu-Rechter (weil Linke keine Fenster putzen),
d) ein Mensch, der charakterlich minderwertig ist, weil er die Realität der normativen Kraft des Denkens nicht unterordnet (denn was schmutzig ist, ist eine reine Frage der Wertung).
Was offenbar undenkbar ist: das Fenster einfach zu putzen! Dies wäre eine einfache Lösung, die umgehend zu mehr Durchblick verhelfen würde. Es wäre sogar schnell getan, würde man einfach mal die Ärmel hochkrempeln und die Arbeit erledigen. Aber die ist unangenehm, überhaupt nicht sexy und völlig ohne Wellness-Faktor. Also steckt man alle Energie in den Versuch, vor der Arbeit wegzulaufen.
Man erkennt diese Methode bei der andauernden illegalen Migration: Würde man die Grenzen schließen, hätte man ein heftiges Problem mit der Begründung des bisherigen Verhaltens und mit den Bürgern, die man in dem Irrglauben bestärkt hat, mit dem Gutheißen der Massenmigration qualifiziere man sich als moralisch höherstehend. Es ist der praktische Anwendungsfall von Goethes Zauberlehrling: „Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los.“ Bei Wahlen käme das nicht gut an, also macht man weiter wie bisher.
Das selbe Spielchen beim Euro
Wer etwas dagegen sagt, ist – na klar – eine Ausländerhasser, außerdem zu 35 Prozent im modernen Rechtsextremismus verhaftet und zu 20 Prozent im AfD-Pegida-Umfeld (was immer das auch sein mag), zumindest aber stark konservativ. Außerdem gäbe es gar keine illegale Masseneinwanderung, alles offenbar nur eine Illusion.
Dasselbe Spielchen gab es auch schon bei der Euro-Einführung und später bei der Euro-Rettung. Meldeten sich Fachleute zu Wort, die meinten, es sei zu früh für den Euro, waren sie böse Nationalisten. Als sich später bei der Euro-Rettung Volkswirte zu Worte meldeten mit dem Hinweis, dass diese so nicht funktionieren werde, gab es dasselbe Spielchen. Dass sich 90 Prozent der deutschen VWL-Professoren in seltener Einigkeit in einer Petition gegen die Vergrößerung des Euro-Rettungsschirms wandten, interessierte niemanden.
Es wurde die ganz große Keule herausgeholt: „Stirbt der Euro, stirbt Europa“, hieß es. Europa wurde als Friedensprojekt sakralisiert, mögliche Militäreinsätze bei einem Euro-Crash wegen der zu erwartenden innereuropäischen Flüchtlingsströme diskutiert.
Angesichts dieses Schreckensszenarios blieb das Volk still und zahlte. Bizarr mutet an, dass wir heute Flüchtlingsströme haben, nur nicht innereuropäisch, sondern auf andere, deutlich problematischere Weise. Dabei ist die Euro-Krise immer noch nicht gelöst, die Euro-Staaten sind in Bezug auf Wachstum und Produktivitätsfortschritte sogar noch heterogener als vor Einführung des Euros.
Dass wir fast die Hälfte unseres Auslandsvermögens abschreiben müssen, ist vielen bekannt, oft übersehen wird aber das Problem der Zombie-Unternehmen, die nicht wirklich konkurrenzfähig sind und nur aufgrund des billigen Geldes überleben können.
Je eher den Problemen stellen, desto besser
Bei der nächsten Rezession – sie wird kommen, sogar eher früher als später – wird die Wohlstandsillusion platzen. Und was dann? Wir haben einen Sozialstaat, der schon ohne zusätzliche Belastungen durch die Migration am Ende war, nun aber hoffnungslos überfordert ist. Wir haben enorme Schulden, unsere Innovationskraft ist durch die Droge des billigen Euros am Boden und die Verantwortlichen scheinen nichts anderes zu beherrschen als das Absondern inhaltsleerer Worthülsen auf Wohlfühlbasis.
Die Politik ist vor den Problemen davongelaufen. Sie zu lösen, hätte von den Bürgern einen Preis gefordert, der sich in schlechten Umfragewerten und verlorenen Wahlen niedergeschlagen hätte. Das aber wollte keine Partei, so dass die Zukunft Deutschlands den Wahlergebnissen geopfert wurde. Dieses Vorgehen hätte nur dann keinen Erfolg gehabt, wenn es eine Kultur im Land gäbe, nicht vor Problemen wegzulaufen, sondern sich ihnen zu stellen und zwar je eher, desto besser. Daher ist es verfehlt, nur auf die Politik zu schimpfen, den Bürgern war der bequeme Weg ja auch viel lieber.
Fatal wirkt sich aber die Emotionalisierung auf die gesamte politische Landschaft aus. Nur derjenige wird wahrgenommen, der für Aufreger sorgt. Es muss alles hochgehypt werden, um Aufmerksamkeit und Klick-Zahlen zu bekommen. Die AfD ist als rechter Rüpel in aller Munde, als aber Lucke & Co. eine neue Partei gründeten, die nicht „igitt“ ist, hat man von dieser nichts mehr gehört. Welch selektive Berichterstattung, die sich über das Phänomen der „Wutbürger“ und „Abgehängten“ aufregt, aber ihrerseits nicht wahrnimmt, was man nicht hypen kann.
Für die ernsthaften Probleme in der Realität wird es nur Lösungen geben, wenn wir zurückfinden zu sachlichen, rationalen Debatten ohne Beschimpfungen, Unterstellungen und Etikettierungen. Professor Hans-Werner Sinn sagte in einem Interview, dass die Politik beratungsresistent sei. Daher habe er sich bisher nicht parteipolitisch engagiert. Das einzige, was ihn interessieren könnte, wäre eine „Wissenschaftspartei“.
Damit wird er kaum gemeint haben, dass nur Wissenschaftler in die Politik sollten, sondern dass es eines vernünftigen und sachlichen Diskurses bedarf, um die Probleme unserer Zeit zu lösen.
In der Realität erleben wir das Gegenteil. Das Volk wird aufgehetzt und gespalten, nicht nur, um Leser oder Wählerstimmen abzugreifen, sondern auch damit es bloß nicht anfängt zu denken. „Die ich rief, die Geister...“ – dem Zauberlehrling kam der Meister zu Hilfe. Und uns?