Gunter Frank
Unter dem Motto „Big Bottle Küchenfest“ ließ man es sich Ende September auf dem Heidelberger Schloss richtig gut schmecken. Es gab gegrillte Presa vom Ibericoschwein, Odenwälder Reh, Pistaziencreme und Wein. Highlight des Abends war die Versteigerung der Goliathflasche „Die Versuchung“ für 1800 Euro. Der Reinerlös kam dem Projekt „Lust auf Essen“ des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen (NCT) zugute. Dessen Repräsentanten sei ein fürstliches Mahl im Kreise ihrer Sponsoren gegönnt, gäbe es da nicht einen Haken.
Das NCT und seine Träger, das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) und die Deutsche Krebshilfe warnen stets eindringlich vor solchen Schlemmereien. Gebetsmühlenartig verbreiten sie, 30 Prozent aller Krebsfälle seien auf falsche Ernährung und mangelnde Bewegung zurückzuführen. Selbst schwerkranken Patienten wird der nutzlose bis gefährliche Unsinn á la DGE empfohlen: „Bleiben Sie so schlank wie möglich …“, „essen Sie wenig rotes Fleisch“, „trinken Sie wenig oder gar keinen Alkohol“, wenig Zucker, wenig Salz und so weiter und so fort.
Eine der drei Abteilungen des NCT nennt sich Präventive Onkologie. Ihre Direktorin, die Ökotrophologin Prof. Dr. Cornelia Ulrich, setzt noch einen oben drauf. Ihrer Meinung nach seien sogar 60 Prozent aller Tumorerkrankungen einem undisziplinierten Lebensstil geschuldet. Seriöse Belege hierfür fehlen wie üblich. Die Wirkung dieser Behauptung ist umso verheerender. Einmal im Jahr halte ich einen kleinen Workshop bei den Waldpiraten, einer Einrichtung, in der Familien mit Krebskranken kostengünstig ihre Freizeit verbringen können. Frage ich die Teilnehmer, wie derartige „Ratschläge“ ankommen, reagieren sie spontan und einhellig: Sie schüren Angst und schlechtes Gewissen.
Selbst nach allen Regeln der Kulinarik schlemmen während man Patienten zum Verzicht nötigt ist zynisch, fällt aber offensichtlich niemandem auf. Warum? Weil es um etwas ganz anderes geht. Sowenig der Vatikan der Hort von Bescheidenheit und Nächstenliebe ist und sich nicht um die damit verbundenen Höllenqualen schert, so wenig glauben die Vertreter von NCT und DKFZ sich dem drohenden Krebstod durch das „Big-Bottle-Menü“ auszuliefern. Es geht vielmehr um das Durchsetzen einer neuen Gruppenmoral, mit der man mal wieder in Gut und Böse, Erleuchtete und Sünder, Sieger und Verlierer einteilen kann. Während man früher mit heller Hautfarbe, der richtigen Herkunft und dem wahren Gott die Eintrittskarte in den Club der Besseren löste, sind es heute Halbmarathon, Biosprossen und ein dürrer Körper. Es geht wieder einmal darum, Macht über andere Menschen zu erlangen.
Moderne Schauprozesse
Die Verlierer der neuen Lebensstilmoral dürfen dagegen öffentlich vorgeführt werden. Wer wie Mollige bereits durch sein Erscheinungsbild als „Sünder“ erkennbar ist, den treffen diese Demütigungen besonders hart. Ein bewährtes Mittel ist dabei das Angst einpflanzen, am besten schon im Kindersalter. So ist es heute selbstverständlich, pausbäckige, propere Kinder als „Risikogruppe“ zu stigmatisieren. Man nötigt sie zur Teilnahme an Umerziehungsprogrammen mit so einfühlsamen Namen wie „Moby Dick“ oder „Sportcamp XXL“. Werden sie dann noch im Fernsehen zur Schau gestellt, bekennen sie sich schuldig: „Ich bin ein ziemlicher Schokifreund und ich bin auch ziemlich unsportlich“. Oder „Früher habe ich mindestens 3 Stunden Videospiele gespielt.“ Darauf der Reporter: „Du weißt aber, dass Sport besser wäre, warum hast du das nicht gemacht?“ Kind: „Weil ich zu faul war.“ Kinder lernen dann, was richtig und gut ist: „viel Salat“, und was falsch ist: „Gummibärchen“. Sie müssen ein zwanghaftes Verhalten gegenüber anscheinend gefährlichen Mitmenschen üben: „Besuch bei Oma. Kreuze an, was richtig ist!“.
Wohin die Reise gehen soll deuten Aussagen an, wie die von Nicholas Christakis, seines Zeichens Internist und Sozialforscher in Harvard. Er warnt davor, sich mit Dicken abzugeben, man könnte sich mit Fettsucht „sozial kontaminieren“. Im Namen der Gesundheit ist heute vieles erlaubt, auch unverhohlener Rassismus.
Die Logik der Doppelmoral
Das sind keine Ausrutscher - die Gruppenmoral lebt vom Feindbild. Sie erzeugt eine Doppelmoral, weil sie ohne die Herabsetzung des Gegners an Kraft verliert. Die Gruppenmitglieder dürfen zu keiner Zeit an der eigenen moralischen Überlegenheit zweifeln. Nur dann können alle anderen als minderwertig eingestuft und dominiert werden. Gruppenmoral mindert die Skrupel und senkt im Konfliktfall die Tötungshemmung, das ist ihr evolutionärer Sinn.
Ein einfacher Test hilft die Absichten sich moralisch gerierender Gruppen schnell einzuschätzen: Je heftiger sie die Vertreter einer differenzierten Sichtweise als „Leugner“ bekämpfen, je bereitwilliger das Wort „Sünde“ - noch dazu in absurden Wortverbindungen wie Esssünde, Klimasünde, Umweltsünde – im Mund geführt wird, desto eindeutiger ist ihre „Ethik“ als reine Fassade zu erkennen. Es ging nie um Seelenheil, Reinheit oder Volkes Wohl, so wenig wie es heute um Klima, Gesundheit oder Tierschutz geht. Es geht nur um die Durchsetzung eigener Interessen auf Kosten anderer.
Der größte Feind solchen Treibens ist Fachwissen. Weil aber in den Lehrplänen die Naturwissenschaften immer öfter durch Kommunikation, Marketing oder Genderthemen ersetzt werden, haben es die Lebensstilmoralisten immer leichter, Karriere zu machen. Ihre wachsenden Netzwerke sorgen dafür, dass Führungspositionen bevorzugt mit Glaubensgenossen besetzt werden, die inzwischen ganze Beraterbranchen legitimieren, die Bevölkerung zu gängeln. Dies schützt die Schwindler vor der Entlarvung und hält die vermeintlichen Sünder noch fester an der kurzen Leine.
Und die Moral von der Geschicht‘?
In der heutigen Gesellschaft nimmt Wissenschaft als objektiver Ratgeber eine wichtige Position ein. Wissenschaftliche Erkenntnisse gelten als oberste Legitimation für politische Entscheidungen á la „eine Studie der Universität XY hat gezeigt, dass…“. Doch wenn Wissenschaft immer häufiger durch Vertreter der Moralelite okkupiert wird, wird diese Funktion der Wissenschaft auf den Kopf gestellt. Als Folge gibt es immer mehr Studien in erschreckend schlechter Qualität und manipulativer Absicht. Die Bevölkerung und der Gesetzgeber gehen nachwievor davon aus, akademisches Fachwissen als Entscheidungsgrundlage serviert zu bekommen, aber in Wirklichkeit handelt es sich um reine Propaganda.
Auf diesem Wege werden auch in einer Demokratie diktatorische Strukturen salonfähig, die unsere freie Selbstbestimmung immer weiter einschränken - die Verbote von Tabak und Glühbirnen war ja nur ein Testlauf. Jedes gut begründete Argument kann nun leicht als Angriff auf Umwelt und Gesundheit denunziert werden - so wie früher als Schädling am Volkskörper. Sieht man sich das Wüten der Gruppenmoral im Laufe der Geschichte an, so erscheint die Sicht des amerikanischen Zoologen George Williams keinesfalls übertrieben, wenn er schreibt: „Die Präferenz für eine Gruppenmoral heißt nichts weiter, als den Völkermord dem einfachen Mord vorzuziehen“.
Dr. Gunter Frank ist Mediziner und Autor. Zuletzt erschienen: Schlechte Medizin - Ein Wutbuch