Tamara Wernli / 03.02.2017 / 16:30 / Foto: Kari ja Leena / 8 / Seite ausdrucken

Die geraubten Dreadlocks

Sich selbst klein machen, damit andere nicht beleidigt sind, gehört heute zum festen Bestandteil der westlichen Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die sich selbst und ihr privilegiertes Leben offenbar so wenig leiden kann, dass sie sich erst besser fühlt, wenn sie sich mit permanenten Schuldeingeständnissen auf die Seite von Opfergruppen schlägt.

In Amerika bewegt ein Begriff die zarten Gemüter: "cultural appropriation", kulturelle Aneignung. Weiße Menschen sollten nicht Symbole, Kleidungsstücke oder Handlungen übernehmen von anderen ethnischen Gruppen – weil sie damit den Minderheiten ihre kulturelle Identität und auch das Ansehen rauben, das sie dafür verdienen. Kulturelle Aneignung ist, wenn man an einer Mottoparty ein Indianerkostüm trägt oder sich ein Bindi auf die Stirn klebt – es wird als rassistische Tat angesehen. Besonders en vogue ist das Anprangern von Prominenten – genauso en vogue sind Prominente, die dann flugs auf Twitter Abbitte leisten.

Supermodel Karlie Kloss löste 2012 einen Sturm der Entrüstung aus, weil sie bei einer Victoria’s Secret-Show eine indianische Federhaube trug. Kloss' Tweet: "Es tut mir zutiefst leid, wenn das jemanden beleidigt hat." Schauspielerin Hillary Duff trug das falsche Halloweenkostüm. Empörung! Tweet: "Ich entschuldige mich aus tiefstem Herzen bei den Leuten, die ich beleidigt habe. Es war nicht richtig durchdacht." Musiker Pharrell Williams posierte in einer indianischen Federhaube auf einem ELLE-Cover. Empörung! Williams' Statement bei Buzzfeed: "Es tut mir aufrichtig leid. Ich respektiere und ehre jede Rasse und Kultur." Justin Timberlake erwähnte, dass Jesse Williams, ein Afroamerikaner, ihn inspiriere. Empörung! Tweet: "Ich entschuldige mich bei allen, die das daneben fanden. Ich habe nichts ausser Liebe für euch alle." Thor-Star Chris Hemsworth verkleidete sich an einer Mottoparty als Indianer. Empörung! Tweet: "Ich entschuldige mich aufrichtig und uneingeschränkt bei allen Ureinwohnern für diese gedankenlose Aktion. Ich hoffe, dass ich mit dem Unterstreichen meiner eigenen Unwissenheit ein bisschen helfen kann."

Sollen Rappen oder Dreadlocks Schwarzen vorbehalten bleiben?

Aus der Perspektive von Minderheiten wie Ureinwohnern ist die Entrüstung teilweise nachvollziehbar, wenn ihre traditionellen Symbole oder Kleidungsstücke zweckentfremdet werden. Es gibt aber zwei Sichtweisen: Man kann es als Aneignung sehen, das wäre es aber nur, wenn die Ethnie selbst das Objekt nicht mehr benützen könnte. Oder als Hommage an die Kultur, als ein Teilen oder Sich-inspirieren-lassen. Was zählt, ist doch die Absicht. Es möchte wohl kaum jemand mit dem Bindi den Hinduismus herabwürdigen oder mit dem Pocahontas-Kostüm die kulturelle Identität von Amerikas Ureinwohnern stehlen.

Vertreter der cultural appropriation fordern auch, dass Rappen oder Dreadlocks Schwarzen vorbehalten bleiben. Spinnt man diese These weiter, dürfte ja auch niemand ausser den Griechen einen demokratischen Staat ausrufen. Oder mathematische Formeln der Babylonier verwenden. Wie steht's mit Musik? Weit genug zurück verschmilzt doch alles miteinander. Wer alles verbannt, verbannt auch das Bewußtsein für Traditionen. Und wo zieht man die Grenze? Offenbar dort, wo man nicht lautstark für Opfergruppen eintreten kann – denn white cultural appropriation existiert nicht.

Ich entschuldige ich mich bei allen, die sich über diesen Text empören. Ich habe nichts außer Respekt für Sie, liebe Leserinnen und Leser.

Tamara Wernli arbeitet als freischaffende News-Moderatorin und Kolumnistin bei der Basler Zeitung. Dort erschien dieser Beitrag auch zuerst. In ihrer Rubrik „Tamaras Welt“ schreibt sie wöchentlich über Gender- und Gesellschaftsthemen.

Foto: Kari ja Leena CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Torsten Bengtsch / 03.02.2017

Die kulturelle Aneignung scheint auch nur in eine Richtung problematisch zu sein. Nämlich dann, wenn Weiße sie nutzen. Andersherum ist die Toleranz größer. Ich habe beispielsweise noch keinen weißen Amerikaner darüber lamentieren hören, dass die Afroamerikaner in “westlicher” Kleidung statt im Baströckchen herumlaufen.

Evelyn Schneeberg / 03.02.2017

Meine Tochter hat in einem von einem Briten geschriebenen Theaterstück eine Britin in historischer Kleidung gespielt. Bei wem muß ich mich jetzt entschuldigen? Bin ich dann auch ein Star oder vielleicht sogar wir beide?

Jens Richter / 03.02.2017

Es reicht nicht, Opfer zu erfinden, man muss sie auch entmündigen. Das herbei fabulierte “Opfer” muss sich gefälligst gedemütigt fühlen, sonst setzt es was, sonst wird ideologisch nachgeholfen. Ich gehe nur noch als fetter, alter, weißer Mann und esse nur noch Erbsensuppe mit Kasseler. Das sollte gehen.

Dr. B. Meyer / 03.02.2017

Ich bin mal in der Grundschule als Marienkäfer zum Karneval gegangen. Bei welcher ethnischen Gruppierung muss ich mich entschuldigen?

Georg Dobler / 03.02.2017

Ich entschuldige mich bei allen türkischen Menschen dass ich schon Döner gegessen habe und beim chinesischen Volk dass meine Frau in der Küche manchmal chinesische Nudeln mit Chicken imitiert. Ich verspreche auch, zukünftig China-Restaurants zu meiden. Den beim italienischen Volk angerichteten Schaden durch das übernehmen der Pizza ist nie mehr wieder gut zu machen. Wodka sollte aus Rücksicht vor der russischen Trinkkultur aus unseren Regalen heraus genommen werden. Und der Tee und der Kaffee ... oh, was haben wir angestellt!

Karla Kuhn / 03.02.2017

Wer sich selber “klein” macht der ist “klein” und dem ist nicht zu helfen. Ich kenne niemand persönlich, der sich “klein” macht. Man soll doch dem ganzen Schrott gar keine Beachtung schenken, denn erst dadurch kann er groß werden.

Dietrich Herrmann / 03.02.2017

Bei wem entschuldigt man sich, wenn man bspw. den Kermit im Kostüm darstellt? Die Welt wird derzeit in dieser Frage von Narren dominiert.

Rudi Knoth / 03.02.2017

Dafür ist dann Ethnopluralismus voll Autobahn.

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