Politiker, die das ökonomisch Vernünftige auf den Weg bringen, machen sich Feinde im eigenen Land. Das wissen sie auch. Denn das wirtschaftlich Vernünftige ist zwangsläufig und daher immer und ausnahmslos gegen die Interessen mächtiger Lobbys gerichtet. Ob es um den Abbau von Handelshemmnissen, die Aufhebung schädlicher Regulierungen oder das Zurückstutzen der Bürokratie im Allgemeinen geht – immer legt sich der Politiker mit sehr mächtigen Gegnern an. Dass das so ist, hat historische Gründe, denn sämtliche gegenwärtig geltenden Gesetze, die ökonomisch unvernünftig und also dem Gemeinwohl abträglich sind, sind nichts als das Resultat jahrhundertelanger erfolgreicher Lobbyarbeit von kleinen aber politisch einflussreichen Interessengruppen.
Warum diese kleinen Gruppen so viel Erfolg haben, erklärte der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman mal sehr einleuchtend so: Alle 250 Millionen Amerikaner haben ein Interesse an möglichst niedrigen Preisen für Zucker. Die acht amerikanischen Zuckerproduzenten möchten einen möglichst hohen Zuckerpreis. Für die "Hateful Eight" ist es daher ein Leichtes, sich zusammenzutun und politisch Einfluss zu nehmen, um hohe Importzölle auf Zuckerimporte durchzusetzen. Das gelingt immer. Unvorstellbar ist dagegen, dass es 250 Millionen Konsumenten gelingt, sich so zu organisieren, dass sie die Einführung hoher Importzölle auf ausländischen Zucker verhindern können. Das Interesse jedes Einzelnen ist dafür einfach nicht groß genug, da er im Fall des Erfolges für ein Kilo Zucker dann vielleicht 30 statt 70 Cents zahlen würde. Dafür lohnt der Einsatz nicht.
Oder, um ein deutsches Beispiel anzuführen – der Meisterzwang, der immer noch für viele Berufe gilt und zuverlässig dafür sorgt, dass Handwerkerpreise für viele Normalbürger halbwegs unerschwinglich sind (ich möchte nicht wissen, wie viele Verletzte und Tote es schon infolge verzweifelter Do-it-Yourself-Anstrengungen im Haus und am Auto gegeben hat). Der Meisterzwang ist die nahtlose Fortführung und gesetzliche Festschreibung des mittelalterlichen Zunftzwanges – und damals ging es ja noch nicht um etwa Elektrikerarbeiten, die Installation von Gasherden oder die Reparatur von Autobremsen, bei denen man gesetzliche Minimalstandards unter Umständen sogar noch für vernünftig halten könnte, sondern um Schneider, Schumacher, Fassbinder und Goldschmiede, die sich durch die Lobbytätigkeit ihrer Zünfte auf Ewigkeit hohe Einkommen sicherten. Aus dieser schönen Zeit stammt denn auch der so charakteristisch deutsche Spruch vom Handwerk, das goldenen Boden hat. Heute sorgen in Deutschland die Handwerkskammern dafür, dass das im Großen und Ganzen so bleibt.
Lobbys und Traditionen gemeinsam gegen unliebsame Konkurrenz
Was also kann der vernünftige Politiker, der die Sache durchschaut, überhaupt tun, wenn er diesen Missstand abstellen will? Es ist schwierig, denn er müsste ja nicht nur gegen die heutigen Lobbys angehen, sondern auch noch gegen die geballte Tradition, die sich über Hunderte von Jahren im kollektiven Halbbewussten so hartnäckig festgesetzt hat, dass sie – nicht nur im Falle des Handwerks – Eingang in Musik, Märchen, Literatur und bildende Kunst gefunden hat und damit als Institution nicht mehr wegzudenken ist. Zwar denkt sich kaum einer was dabei, sein Smartphone oder Tablet billig bei irgendeinem „Ausländer“ im kleinen Laden an der Ecke reparieren zu lassen, aber beim Wandanstrich, champagnerfarben, möchte man doch gerne die Gewähr haben, dass das auch „wie früher, ordentlich“ gemacht wird.
Darüber hinaus muss sich der Politiker auch noch gegen Parteikollegen zur Wehr setzen, die entweder nicht so vernünftig sind wie er oder nicht die Ausdauer haben, sich auf ein von vornherein aussichtsloses Unterfangen einzulassen. Denn die Lobbys sitzen schließlich am längeren Hebel, weil sie über ganz ausgezeichnete Druckmittel verfügen: Die Zuckerproduzenten drohen glaubhaft mit der Verlegung sowohl von Arbeitsplätzen als auch von Steuereinnahmen ins Ausland, sollten ihre Forderungen zur Ausschaltung der Konkurrenz nicht erfüllt werden. Da kann dann kaum ein Politiker widerstehen – der Geist mag noch so willig sein, aber das Fleisch ist eben schwach. Man sieht, der echte Dienst am Gemeinwohl ist offenbar noch schwieriger auszuführen als die Quadratur des Kreises. Und man merkt auch, dass die angebliche Anfälligkeit von Politikern für Korruption in diesem Szenario kaum eine Rolle spielt. Bestechungsgelder kann der Lobbyist sich sparen.
Aber eine Möglichkeit hat der vernünftige Politiker doch, sich wirksam fürs Gemeinwohl einzusetzen. Er macht es wie der trockene Alkoholiker, der sich selbst aus der Entscheidungszone nimmt, indem er einen weiten Bogen um jede Kneipe macht. Im Falle des Politikers heißt das dann: Er entzieht sich dem Druck der – nationalen – Lobbyisten, indem er freiwillig seine Entscheidungskompetenz aufgibt, sie sozusagen „hochdelegiert“, und zwar auf die supranationale Ebene. Damit ist er dem Einfluss der Lobbyisten gegenüber unzugänglich. Er tritt ihnen nun achselzuckend entgegen und sagt nur: „Leider kann ich da gar nichts machen…“
Es ist ein bisschen wie mit Odysseus, der sich freiwillig an den Mast binden lässt und sich dann noch die Ohren mit Wachs verstopft, weil er weiß, dass er nur so dem Gesang der Sirenen wird widerstehen können. Ein Paradebeispiel für diesen Ansatz ist die Europäische Zollunion von 1968, die von klugen Leuten mit Recht als die erste großartige Errungenschaft der EU im Interesse aller Bürger angesehen wird. Zwar sind die Zollschranken innerhalb der EU für Kraftstoffe, Alkohol, Tabak und Kaffee bis heute nicht aufgehoben (die deutsche Kaffeeröststeuer in Höhe von 2,19 Euro pro Kilo muss weiterhin für jeden aus einem anderen EU-Land nach Deutschland gebrachten Kaffee beim Zoll entrichtet werden), aber auf alle anderen Waren gibt es keine Zölle mehr.
Auf supranationaler Ebene wird es für Lobbyisten schwieriger
In dieser Hinsicht hat also das Gemeinwohl – die Interessen aller EU-Bürger, die seitdem billigere Waren kaufen – über die Interessen der Lobbyisten gesiegt. Und das konnte nur deshalb geschehen, weil die nationalen Politiker ihre Entscheidungsgewalt an die EU abgegeben haben. Was den Kaffee, die Kraftstoffe, den Alkohol und den Tabak angeht, so ist es allein daran gescheitert, dass hier der Nationalstaat selbst in der Rolle des Lobbyisten auftrat – er wollte sich die beträchtlichen Einnahmequellen nicht verstopfen lassen.
Die Durchsetzung gemeinwohlschädlicher Partikularinteressen in Form von Zollschranken ist mittlerweile etwas aus der Mode gekommen, obwohl sie immer noch ein bisschen ihr Unwesen treiben. Da es aber Zölle jedenfalls innerhalb der EU nun schon lange nicht mehr gibt, musste man sich etwas neues einfallen lassen, um sich die Konkurrenz vom Leib und damit die eigenen Verkaufspreise möglichst hoch halten zu können. Man geht die Sache nun subtiler und auf elegantere Art und Weise an, indem man sich zeitgemäßer Marketingmethoden bedient. Man fährt nicht länger in die Hauptstadt und droht den Parlamentariern mit dem Entzug von Arbeitsplätzen und Steuereinnahmen, sondern man dreht die Sache auf Verbraucher- und Konsumentenschutz und tritt damit über die Medien an die Öffentlichkeit, um so Stimmung bei den Wählern zu machen – und vor denen hat der nationale Politiker immer noch großen Respekt.
Mehr darüber morgen im zweiten Teil dieses Beitrags
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Eva Ziesslers Blog hier.