Von Gabor Steingart.
Großbritannien hat mehrheitlich beschlossen, sich selbst zu schaden. Das Land wird nach Monaten heftigster anti-europäischer Allergie die Europäische Union verlassen. 52 Prozent der Wähler stimmten für den Bruch mit den anderen europäischen Staaten, nur 48 Prozent sahen innerhalb der EU eine Zukunft, die es nun nicht mehr geben wird. Die Wahlbeteiligung lag bei 72 Prozent.
So wird sich denn Großbritannien aus der europäischen Nachkriegsgeschichte verabschieden. Das Land braucht nun eine neue Regierung, denn David Cameron ist als Regierungschef unhaltbargeworden. Es braucht aber auch eine gehörige Portion Tapferkeit, das Abrutschen in die ökonomische Randlage zu ertragen. Die Unabhängigkeit dürfte Großbritannien mit einer Stagnation bezahlen. Auf das Wachstum, auf die Direktinvestitionen, auf den Export und damit auf den eigenen Arbeitsplatz wird sich die heutige Nacht nicht sehr vorteilhaft auswirken.
Die Verlierer sehen allerdings auch aus wie Sie und ich. Die Europäische Union verliert knapp 20 Prozent ihrer Wirtschaftskraft, 13 Prozent ihrer Arbeitnehmer, 10 Prozent ihrer Soldaten. Und auch 31 Prozent der Marktkapitalisierung am Aktienmarkt gehören mit einem Federstrich nicht mehr zum Club. Dem EU-Haushalt ist über Nacht der nach Deutschland und Frankreich drittgrößte Nettozahler abhandengekommen.
Die Menschen auf der Insel sind nicht dümmer als wir
Doch es wäre falsch, die britischen Wähler nun der Unmündigkeit zu bezichtigen. Die Menschen auf der Insel sind nicht dümmer als wir. Oder um es mit Kurt Tucholsky zu sagen: "Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig.“
Mit dem heutigen EU-Europa - das ist die Botschaft dieser historischen Brexit-Entscheidung - ist offenbar kein Staat zu machen. Jedenfalls keiner, der geliebt und geachtet - und gewählt - wird. Wenn man sich im Raumschiff Brüssel einen Restsinn für Wirklichkeit bewahrt hat, müssten heute die Alarmanlagen schrillen. Es wird Zeit für die Erkenntnis, die viele tapfere Vorkämpfer des europäischen Projekts als Zumutung empfinden werden: Nirgends ist man weiter weg von Europa als in Brüssel.
Die EU der Institutionen und Bürokratien, der Hinterzimmer und der schwer durchschaubaren Prozeduren verkörpert nicht die demokratisch verfassten Vereinigten Staaten von Europa, von denen wir einst geträumt haben. Brüssel ist zur Chiffre administrativer Arroganz geworden, nicht nur in Großbritannien. Die EU-Kommission mit ihrem höfischen Gehabe ist dem Feudalismus oft näher, als uns Recht sein kann.
Die Souveränitätsübertragung vom Nationalstaat auf diese supranationale Organisation wird vom eigentlichen Souverän, dem Volk, nicht als Fortschritt empfunden, sondern als Anmaßung. Auch als demokratische Anmaßung. Die Nation darf nicht mehr bestellen, aber soll noch bezahlen. Sie hat zu funktionieren, aber nichts mehr zu sagen. Sie ist für das Dekorative und Anmutige zuständig, solange in Europa sich noch kein eigenes Staatsvolk mit Hymne und einheitlicher Haushaltskasse gebildet hat. Man spürt ja, wie die Geschichte in den Augen der Kommissare weitergehen soll: Die Tage des Nationalstaates sind gezählt, er schnappt bereits nach Luft.
Nicht nur Material kann ermüden, Menschen können es auch
Vielleicht hatten die Gründungsväter von Anfang an einen Plan, der zu weit ging. Es ginge um „die Überwindung der Nationen“ inklusive der Erschaffung des „europäischen Menschen“, wie sich der erste Vorsitzende der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Walter Hallstein, in schöner Offenheit ausdrückte. Seither werden die Gesellschaften, ohne Rücksicht auf regionale Tradition und demokratische Gepflogenheit, zu einem großen Ganzen verdichtet, bis ihre spezifischen Eigenschaften sich annähern oder - besser noch - gleichen.
Doch wie die Physiker bei mechanischer Dauerbelastung vor Materialermüdung warnen, so muss auch hier gewarnt werden. Nicht nur Material kann ermüden, Menschen können es auch. Der Vorgang ist in beiden Fällen ein dialektischer. Die Kompression verdichtet so lange, bis an unerwarteter Stelle ein Riss auftaucht und schließlich das eintritt, was die Experten der Werkstoffkunde einen Ermüdungsbruch nennen.
Die Unnachgiebigkeit der EU, die auf jede Integrationsleistung der Bürger mit einer neuerlichen Integrationsanforderung reagiert, ist gestern abgewählt worden. Genug ist genug, sagen die Briten. Und wer weiß, was die Deutschen und die Franzosen sagen würden, wenn man sie in gleicher Weise an die Urnen riefe. Der Befund und das Gefühl gleichen sich: Die Gesellschaften vom Mittelmeer bis nach Skandinavien werden einem Homogenisierungsdruck ausgesetzt, dem sie nicht durch größere Folg- und Fügsamkeit, sondern am Ende nur durch Rissbildung entweichen können.
Großbritannien ist die Sollbruchstelle, der nun der große Riss folgt, wenn nichts anderes folgt. Europa muss sich auf seine Erneuerung einlassen.Wer das großartige Projekt von Völkerverständigung und wirtschaftlicher Zusammenarbeit nicht auf dem Scheiterhaufen der Geschichte sehen will, muss heute Morgen innehalten - und in das Gesicht der britischen Wähler schauen. Er wird sich selbst erkennen. Das Unbehagen über die EU hat sich längst europäisiert. Der kranke Mann Europas ist Europa selbst. Röter wird's nicht.
Gabor Steingart ist Herausgeber des Handelsblatts. Dieser Text ist ein Gruss an seine Leser am Tag 1 nach dem Referendum.