Oliver Marc Hartwich, Gastautor / 26.07.2013 / 23:59 / 1 / Seite ausdrucken

Die Eurokrise auf deutsches Eis gelegt

Parlamentswahlen sind dazu da, eine Regierung zu wählen, und Wahlkämpfe dazu, die wichtigsten Probleme eines Landes zu diskutieren. Wenn das Ihre Definition einer Wahl ist, dann fragen Sie sich vielleicht, ob Deutschland sich wirklich im Vorfeld der Bundestagswahl am 22. September befindet.

Selten verlief die Zeit vor einer Wahl so ereignislos wie vor dem diesjährigen Urnengang in Deutschland. Nur neun Wochen vor dem Wahltag haben die meisten Deutschen Besseres zu tun als über Politik nachzudenken. Sie fahren in Urlaub, diskutieren die Ernennung von Pep Guardiola zum Trainer des FC Bayern München oder genießen einfach den plötzlichen Ausbruch eines richtigen Sommers nach einem ungewöhnlich kalten Frühling.

Demgegenüber geben die politischen Parteien den Wählern nicht viel Grund, sich wirklich mit ihnen und ihren Wahlprogrammen zu beschäftigen. Ihre Wahlversprechen werden allzu leicht als Tricks entlarvt, die doch niemals umgesetzt werden, und zu den größten aktuellen Problemen, der Zukunft Europas und des Euro, findet keinerlei Debatte zwischen den etablierten Parteien statt.

Ausländische Beobachter könnten naiverweise annehmen, Deutschland würde angesichts der sich verschlechternden Wirtschaftsdaten von der europäischen Peripherie die Konsequenzen diskutieren. Schließlich steht in Südeuropa für Deutschland ungeheuer viel auf dem Spiel. Wenn nur ein Teil der deutschen Kredite an das übrige Europa abgeschrieben werden müsste – etwa nach einem Staatsbankrott, einer Bankenkrise oder beidem – würde dies deutschen Anlegern und Steuerzahlern sehr wehtun. Die deutschen Sparer zahlen bereits heute für die Krise, da durch die Politik der Europäischen Zentralbank das, was einmal vernünftige Zinserträge waren, zu einer fernen Erinnerung geworden ist.

Es gibt also genug Gründe, sein Augenmerk auf die Eurokrise zu richten und nach Auswegen zu suchen. Aber mit diesen ernsten Problemen einen Wahlkampf zu bestreiten – Sie scherzen wohl!.

Es ist, als hätten die etablierten deutschen Parteien – Christdemokraten, Sozialdemokraten, Grüne und Freie Demokraten – ein Kartell zur Verhinderung echter politischer Diskussionen gebildet. Keine von ihnen ist bereit, Europa zum Wahlkampfthema zu machen. Das verwundert nicht, da jeder einzelne Parlamentsbeschluss zur Eurokrise von allen diesen Parteien mitgetragen wurde. Die Opposition hat daher keine Möglichkeit, der Regierung nun die Schuld für die politischen Entscheidungen zu geben, die sie selbst stets mitgetragen hat.

Es gibt noch einen zweiten Grund für den parteiübergreifenden Waffenstillstand vor der Wahl. Es wurde eine Partei gegründet, die den Konsens hinsichtlich Europa in Frage stellt - die ‘Alternative für Deutschland’. Die Alternative liegt in den Umfragen derzeit bei 2-3 Prozent – dort, wo alle anderen Parteien sie gern belassen würden. Um der Alternative keine zusätzliche Publicity zu verschaffen, lehnt das politische Kartell die Beschäftigung mit dem Problem Europa ab und tut tatsächlich so, als existiere es nicht.

Um nun die Langeweile vor der Wahl komplett zu machen, sind die Meinungsumfragen seit Monaten, wenn nicht seit Jahren stabil – Kanzlerin Angela Merkel hat praktisch die Garantie auf eine weitere Amtszeit. Die einzige Ungewissheit besteht hinsichtlich ihres Koalitionspartners (auch wenn dieser in der Praxis wenig Bedeutung hat).

Seltsam an diesem Schlafwandeln in Richtung Wahlen ist nicht, wie es gelingen konnte, ordentliche politische Debatten in Deutschland zu lähmen, sondern wie sinnvolle politische Debatten in Europa sich paralysieren ließen.

Erfahrene Beobachter werden sich vielleicht erinnern, dass die Eurokrise nicht zum ersten Mal durch innerdeutsche Überlegungen auf Eis gelegt wurde. Denken Sie daran, dass das erste griechische Rettungspaket am 10. Mai 2010 beschlossen wurde - und nicht früher, als alle es erwartet hatten. Der Grund dafür ist, dass zuerst in Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland Nordrhein-Westfalen gewählt werden musste, bevor ein Bailout vereinbart werden konnte (Will German voters cut the cord?, 6. Mai 2010). Kanzlerin Merkel hatte zu viel Angst, den Wählern vor dem Urnengang die Wahrheit zu sagen, und ließ Europa daher auf eine Entscheidung warten. Merkels Partei half das letztlich nicht, sie verlor das Bundesland dennoch.

Was wir gegenwärtig beobachten, folgt dem gleichen Muster. Rund um die Eurozone bestehen Probleme, die dringend gelöst werden müssen. Die portugiesische Regierung ist gerade einem Zusammenbruch entgangen, da der Konsens über Sparmaßnahmen zu bröckeln beginnt. Griechenland wird einen zweiten Schuldenschnitt brauchen. Italiens Schuldenspirale bewegt sich abwärts. Zypern benötigt nach seinem ersten Rettungspaket erneut Hilfe. Und das sind nur die drängendsten Probleme.

Doch ebenso wie ein Kartell in der deutschen Politik verabredet hat, nicht zu laut über Europa zu reden, scheint in den anderen europäischen Ländern die gleiche Zurückhaltung zu bestehen, vor den deutschen Wahlen eines dieser Probleme anzugehen. Jeder europäische Politiker weiß, dass er auch nach der Bundestagswahl noch mit Angela Merkel zu tun haben wird, und als deutsche Kanzlerin wird sie weiterhin der wichtigste politische Akteur in der europäischen Politik sein. Da eine Diskussion über Europa ihren somnambulen Wahlkampf stören könnte, wird der Deckel auf dem Topf mit den politischen Problemen gehalten – einstweilen. Niemand wagt es, sich in Merkels Wiederwahlkampagne einzumischen, nicht einmal andere europäische Regierungschefs.

Verrückterweise bedeuten diese Bedingungen im In- und Ausland in ihrer Gesamtheit, dass die Eurokrise innerhalb Deutschlands nicht zum Thema werden darf, und außerhalb Deutschlands fühlt sich niemand stark genug, Merkel herauszufordern.

Diese Feuerpause wird bis zum 22. September anhalten, wenn Deutschland endlich zur Wahl geht. Im Januar dieses Jahres hatte ich vorhergesagt, dass sich das Jahr genau so abspielen würde (Langweilig und farblos: Merkel kommt den deutschen Neigungen entgegen, 18. Januar). Damals schrieb ich: „Es wird der langweiligste Wahlkampf mit dem berechenbarsten Ergebnis werden, das Sie sich vorstellen können.“ Wenn ich nur die Lottozahlen mit der gleichen Genauigkeit vorhersagen könnte!

Die deutschen Wahlen werden also keinen Regierungswechsel bringen – aber sie werden die Dynamik der Eurokrise ändern.

Bis zum Wahltag wird sich in der Eurokrise nichts bewegen. Es wird sogar den Anschein haben, als sei die Eurokrise eingeschlafen. Verdrängte Probleme müssen jedoch letztlich gelöst werden - so oder so. Aus diesem Grund werden wir nach dem 22. September vom nächsten griechischen Schuldenschnitt, vom nächsten zypriotischen Rettungspaket und von der Zukunft der Eurozone im Allgemeinen hören.

Den armen Deutschen, die wählen gehen, werden die Wahlen vielleicht noch nie so zwecklos vorgekommen sein. Was auch immer sie wählen, es ändert ohnehin nichts. Und doch ist es gut, dass sie endlich wählen gehen – wenn auch nur deshalb, damit Europa seinen Sommerurlaub von der Eurokrise beenden kann.

Dr. Oliver Marc Hartwich ist Executive Director der The New Zealand Initiative (www.nzinitiative.org.nz).

‘A euro crisis on German ice’ erschien zuerst in Business Spectator (Melbourne), 18. Juli 2013. Aus dem Englischen von Cornelia Kähler (Fachübersetzungen - Wirtschaft, Recht, Finanzen).

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Dirk Jäckel / 27.07.2013

Und meine Prophezeiung für Ende 2013 oder Anfang 2014 (ein paar Wochen Schamfrist wird das Kartell aus Merkel/Schäuble/SPD/Grünen wohl einhalten): Die lustigen Deutschen werden entsetzt aufjaulen und wehklagen: Hätte ich das vor der Wahl gewusst…. Die überaus mutigen Nichtwähler werden sich derweil auf die Brust klopfen und rufen: Seht ihr! Diesem Volk ist nicht zu helfen.

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