Kaum ein Land kann auf eine so reiche liberale Tradition zurückblicken wie Großbritannien. Man denke nur an Meilensteine der Rechts- und Verfassungsgeschichte wie die Magna Carta, die Petition of Right, den Habeas Corpus Act oder die Bill of Rights. Man kann es auch an liberalen Persönlichkeiten festmachen, wobei einem beispielsweise die Namen John Locke, David Hume, Adam Smith oder auch David Ricardo einfallen.
Keine Frage: Die Freiheitsliebe war einmal Teil des “genetischen Codes” der Briten. Man war stolz auf seinen staatsfernen Eigensinn, und so gab es in der britischen Ideengeschichte vor dem 20. Jahrhundert auch keine metaphysische Überhöhung des Staates. Etwas zugespitzt formuliert: Die Briten hatten Locke, Smith und Ricardo, die Deutschen Hegel, Marx und Sombart, und damit waren beide Nationen fast hinreichend charakterisiert.
Nach wie vor glaubt man sowohl in Großbritannien aber auch auf dem Kontinent, dass das freiheitliche Element auf der Insel besonders stark sei. Doch dies ist nur ein weiterer britischer Mythos, in etwa so wie der, dass Großbritannien eine kapitalistische Wirtschaftsordnung habe, wo doch die britische Staatsquote inzwischen höher ist als die deutsche. Tatsächlich befindet sich die britische Freiheitsliebe seit geraumer Zeit im Niedergang, während man im Gegenzug ein neues Staatsverständnis auf der Insel entwickelt hat, in dem der Staat eine große Rolle spielt. So ist der britische Staat heute allgegenwärtig und mindestens ebenso interventionistisch wie seine kontinentaleuropäischen Pendants.
Zwei Gründe kann man für die Wandlung des britischen Staatsverständnisses identifizieren und beide hängen eng miteinander zusammen. Der erste Grund ist der Niedergang des britischen Empire. Dieser setzte bereits weit vor der offiziellen Loslösung der britischen Kolonien ein und fand etwa seinen Ausdruck im Statute of Westminster von 1931, in dem das britische Parlament erklärte, dass es keine Gesetze mehr für seine Kolonien erlassen würde. Damit entfiel ein weites Tätigkeitsfeld des Parlaments, das sich dafür quasi als Ersatz neue Gebiete der Gesetzgebung suchte. Dass Großbritannien heute (im Gegensatz etwa zum 19. Jahrhundert) ein ausgesprochen zentralistisches Land mit schwachen Kommunalverwaltungen ist, hat seinen Ursprung hier. Als Westminster keine Gesetze mehr für Australien und Indien zu verabschieden hatte, widmete man sich stattdessen eben Anglesey und Ipswich. Großbritanniens Politiker sahen nicht mehr nach Außen, sondern begannen, die Binnenverhältnisse verstärkt zu regulieren. Die Bürger, die bis dahin von allzu dirigistischen Eingriffen ihrer Politiker verschont geblieben waren, sahen sich nun einer gesteigerten Gesetzgebungsaktivität ausgesetzt, für die sie zudem mit höheren Steuern zu bezahlen hatten - ein Verlust von Freiheit.
Ein zweiter Faktor verband sich damit wenig später: Mit der fortschreitenden Auflösung des Empire und besonders nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Sozialstaat für die Briten mehr und mehr zu einem identitätsstiftenden Element. Wenn man schon kein Weltreich mehr zu verwalten hatte, so wollte man doch zumindest zu Hause das “Neue Jerusalem” bauen. Dass dieser Ansatz durchaus einen religiösen Kern beinhaltete, ist bereits an dieser Metapher zu erkennen. Praktisch ist etwa der Nationale Gesundheitsdienst trotz seines offenkundigen Versagens zur neuen britischen Staats-Religion geworden. Doch was das “Neue Jerusalem” vor allem erforderte, war ein Staatsverständnis, das sich deutlich von jenem eines John Locke unterschied. Wo der Staat sich ehrgeizige Ziele setzte, durften individuelle Rechte nicht ihrer Verwirklichung im Wege stehen.
Das 20. Jahrhundert war für Großbritannien somit die Abkehr von seinen jahrhundertealten Traditionen des Liberalismus, und aus einer imperialen Macht mit im Inneren gut geschützten individuellen Freiheitsrechten und starken Elementen lokaler Demokratie wurde ein zentralisiertes, durchreguliertes und seine Freiheitstraditionen schleichend vergessendes Land.
Kaum ein Tag vergeht, an dem die Auswirkungen dieser Entwicklung in der praktischen Politik nicht zu bemerken wären. Es mögen Kleinigkeiten sein, aber sie sind sehr aufschlussreich. Da ist zum Beispiel die Meldung, dass die Regierung Warnhinweise auf Alkoholika einführen möchte - die Volksgesundheit erfordere eine bessere Aufklärung über die Gefahren des Alkoholkonsums. Da sollen die Besucher von Theateraufführungen gewarnt werden, wenn in dem Stück auf der Bühne geraucht wird - das Gefährdungspotenzial des Zigarettenqualms sei zu hoch. Heute war zu erfahren, dass die britische Umweltbehörde darauf hinwirken will, die Briten zu Veganern umzuerziehen - die durch den Verzehr tierischer Produkte bedingten CO2-Emissionen seien angesichts des Klimawandels nicht akzeptabel. Schließlich werden immer mehr bürgerliche Freiheiten eingeschränkt - der Kampf gegen den internationalen Terrorismus erfordere es.
Die Freiheit des Individuums, eigene Entscheidungen auf eigenes Risiko und eigene Verantwortung zu treffen, war einmal in Großbritannien zu Hause. Heute lassen sich die Briten beinahe klaglos regulieren, registrieren, anweisen, organisieren und verwalten - alles britisch und politisch korrekt und zum Zwecke der Förderung eines kaum je näher bestimmten Gemeinwohls, der Umwelt oder der Nachhaltigkeit.
Hegel hätte seine Freude am heutigen Großbritannien; und die Briten werden immer deutscher.