Kolonialismus geht heutzutage anders als früher. Aber der Unterschied ist leicht erklärt. Ich nehme ein Beispiel und zäume das Pferd von hinten auf, dann wird’s noch leichter.
Man versuche einmal, in türkischen Städten Deutsche anzusiedeln. Nicht nur einen, sondern immer gleich mehrere. Sagen wir einfach: jeweils so viele, dass sie prozentual denselben Anteil erreichen wie die Türken in Köln. In der türkischen Provinz würde aber auch schon einer genügen.
Das wird nicht klappen. Warum? Weil die Türken in ihrem Heimatland lieber unter sich sind. Sie mögen es nicht, wenn Ungläubige unter ihnen leben. Dass solche Ungläubige in anderen Ländern leben, wird zähneknirschend hingenommen, aber das ist das Maximum an Zugeständnissen. Das muss reichen.
In Deutschland hingegen, und in anderen fortschrittlichen Ländern, hat man klar erkannt, dass eine solche Einstellung nicht mehr akzeptabel ist. Denn sie diskriminiert Menschen. Daher muss erst gar nicht nach Gründen gesucht werden, weshalb vielleicht auch Deutsche im Heimatland lieber etwas mehr unter sich wären. Oder, genauer: Schon die Suche nach derlei Gründen wäre diskriminierend, und die Gründe selbst sind es ohnehin. Das hat auch jeder eingesehen, weshalb nun die Deutschen – typisches Kennzeichen von Fortschritt – ein Problem weniger haben als zum Beispiel die Türken.
Damit zum Kolonialismus im Wandel der Zeit: Früher musste dem zu Kolonialisierenden die Kolonialisierung aufgezwungen werden. Das war ungeheuer aufwendig und brachte keine Sympathien bei der Bevölkerung des Ziellandes. Heute dagegen ist es so einfach, dass viele sich fragen, weshalb man nicht schon früher drauf gekommen ist: Man schafft eine Willkommenskultur und verzichtet auf jede darüber hinausgehende Anstrengung.
Kritiker wenden an dieser Stelle ein, dass die Sache einen kleinen Haken hätte: Man sei doch jetzt selbst der Kolonialisierte. Dieser Einwand beruht auf einem Grundirrtum, zu erklären mit der Tatsache, dass die christlichen Tugenden, wiewohl tief verankert im Volk, diesem nur noch wenig bewusst sind. Denn wäre es nicht so, dann würden auch besagte Kritiker sofort erkennen: In Wirklichkeit kolonialisiert die Willkommenskultur die vermeintlichen Kolonialisatoren – mit christlicher Güte und Nächstenliebe. Und in welchem geografischen Raum diese Kolonialisierung stattfindet, spielt keine Rolle, denn ihr eigentlicher Raum ist der Mensch, beziehungsweise sein Herz.
Man kann also sagen: Wären die christlichen Tugenden – korrekt: die neutestamentlich-christlichen Tugenden – noch so bewusst wie einst, dann wäre der gedankliche Umweg über moderne Antidiskriminierungslehren überhaupt nicht nötig. Man kann es aber auch positiv formulieren: Moderne Antidiskriminierungslehren führen den Westler wieder heim in den Glauben. Wer das nicht als kulturbewahrende Leistung anerkennt, ist verblendet und undankbar. Jesus wäre heute ganz bestimmt Multikulti-Vorkämpfer. Und daher kann die Formel für den Westler des 21. Jahrhunderts nur lauten: Gieß Wasser zur Suppe, heiß alle willkommen. So wirst du zum Kolonialisator der Herzen. Alles andere ist von vorgestern.
Wobei, seit Hitler, die geografische „Raum”-Frage schon dreimal von vorgestern ist. „Volk ohne Raum”? Das hat erstens nicht gestimmt, und zweitens hat nur derjenige aus der Vergangenheit gelernt, der in jeder Hinsicht das Gegenteil von dem denkt, was einst Hitler gedacht hat. Das Gegenteil, sagte ich – und daher genügt es auch nicht, Hitlers Raum-Formel umzuwandeln in „Volk mit genügend Raum”. Sondern es muss heißen: „Volk mit zu viel Raum”. Insofern kann das Ziel nur in Dekolonialisierung bestehen, und zwar in der Spielart Eigenraum-Dekolonialisierung. Vollständige Definition: Dekolonialisierung des Eigenraums von sich selbst. Von dieser Definition ist Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab” nur ein reduktionistischer Abklatsch.
So gesehen, scheint mir der in Deutschland zu beobachtende Gang der Dinge absolut folgerichtig zu sein. Zwar könnte noch gefragt werden, wer die Herzen der autochtonen Deutschen kolonialisieren soll (Güte und Nächstenliebe des Islam?), wo doch die Kolonialisierung der Herzen so wichtig ist. Aber das wäre wiederum egoistisch und damit unchristlich. Wahrscheinlich wäre es auch irgendwie diskriminierend – fällt mir zwar gerade nicht ein, inwiefern, aber das dürfte an mir liegen. Oder an Büchern wie „Islam und Toleranz” von Siegfried Kohlhammer, die mich mit ihrer Quellenprotzerei vorübergehend auf den falschen Weg gebracht haben. Jedenfalls werde ich mein Buchprojekt „Hat Jesus zuviel verlangt? Über die Grenzen der Liebe zu allem und jedem im Lichte elementarer Prinzipen der Evolution” umgehend canceln.
Till Schneider, geboren 1960, ist Pianist und Autor. Er studierte Musik, Journalistik und Psychologie.