Neben all den in Berlin Mitte beliebten Fragen, ob Angela Merkel es – also in diesem Fall eine Jamaika-Koalition – "hinkriegt" (C.Kleber, H.-U. Jörges, weitere), und wer in der kommenden Regierung was wird, abgesehen von dieser "Herausforderung" (A. Merkel) gibt es noch einen merkwürdig unerwähnten Punkt. Die Zahl der Wähler, die Gegner der ungesteuerten Migration sind, die eine steigende Kriminalität als existenzielles Problem sehen, die erwarten, dass eine eine halbe Million abgelehnter Asylbewerber endlich abgeschoben wird, diese Zahl liegt nach mehreren Umfragen über 50 Prozent.
Dass heißt: sehr viel höher als der Stimmenanteil der AfD von 12,6 Prozent. Offenbar trauen es also viele Deutsche der Partei von Gauland und Weidel nicht zu, allein durch ihre Anwesenheit im Parlament Armutseinwanderung und Kriminalität einzudämmen. Sondern sie haben sich am 24. September entschieden, der Union noch einen letzten Kredit zu gewähren, obwohl sie das Konto seit 2015 schon weit überzogen hat. Ein paar Millionen Wähler handeln also nicht anders als Gläubiger, die ein letztes Mal nachschießen in der Hoffnung, dass sich der Schuldner endlich zusammenreißt. Ihnen würde es sogar einstweilen genügen, wenn die Verantwortlichen sagen würden: Wir haben verstanden.
Tatsächlich geschieht folgendes: Angela Merkel streicht den allerletzten Dispokredit wie einen Tribut ein. Vor der Unionsfraktion verkündet sie: "Ich sehe nicht, was wir jetzt anders machen sollten." Genau darin scheint das Problem zu liegen. Sie sieht es wahrscheinlich wirklich nicht. Vor der Wahl fragten sie untertänige FAS-Journalisten, worauf sie denn in der kommenden Legislaturperiode noch "neugierig" wäre. Offenbar gilt das neuerdings als politische Kategorie. Merkel antwortete: "Auf die Schaffung eines digitalen europäischen Binnenmarktes" (ganz nebenbei: Das sagt nach 12 Jahren Amtszeit eine Kanzlerin, in deren Land es um den Glasfaserausbau mittlerweile schlechter bestellt ist als im Baltikum und in Portugal).
Ebenfalls vor dem Wahlsonntag beschied sie eine Fragerin in einem Townhall-Meeting der ARD, die sich um die Einwanderung hunderttausender muslimischer Männer, deren Frauenbild und die extrem gestiegene Rate von Sexualstraftaten sorgte: "Wir" - also die Regierung - "verfolgen die Statistik sehr genau, und wir können nicht feststellen, dass das generell so ist." Das was generell nicht so ist? Überall, wo neue Kriminalstatistiken veröffentlicht wurden, weisen sie extreme Steigerungen von Sexualstraftaten und Rohheitsdelikten auf.
Den Opfern von Kriminalität und Terror geht es nicht schlechter?
Im eigentlich sicheren Bayern stieg die Zahl der Sexualstraftaten im ersten Halbjahr 2017 im Vergleich zum 1. Halbjahr 2016 um 50 Prozent, die Zahl der von Asylsuchenden begangenen Sexualstraftaten um 90 Prozent. Bei einem Anteil der so genannten Schutzsuchenden an der Gesamtbevölkerung von etwa drei Prozent beläuft sich ihr Anteil an den Sexualstraftätern auf 18 Prozent. Eigentlich sehr selbstbewusste junge Frauen in Großstädten meiden mittlerweile öffentliche Verkehrsmittel in der Nacht, oder sie gehen abends nicht mehr allein aus. In Leipzig riet die Polizei kürzlich Frauen, nicht mehr allein zu joggen.
Man weiß von außen nicht, ob Merkel den riesigen Elefanten im Zimmer einfach ignorieren will (in der nicht unberechtigten Hoffnung, dass die Medien es ihr einfach nachtun), oder ob sie mental blind ist für die Wirkung ihrer Politik, die tief in Familien und das private Leben hineinreicht. Das betrifft auch andere Bereiche. Viele Beobachter – auch ich – hatten sich gefragt, ob ihr noch ein Kommentar einfallen würde zu der Bemerkung ihrer Staatsministerin Özoguz, eine spezifische deutsche Kultur sei für sie "schlicht nicht erkennbar". Bei der so genannten Elefantenrunde am Wahlabend sagte die Kanzlerin doch etwas dazu: Das sei ein Satz, der unter die Merinungsfreiheit falle. Das ist nicht falsch, ebenso wie Merkels Feststellung: "Strafdelikte sind bei uns nicht erlaubt."
Ihr Adlatus Peter Altmaier variierte diese Rhetorik kürzlich mit dem Satz: "Niemandem in Deutschland geht es schlechter, weil wir Schutzsuchenden helfen." Abgesehen einmal davon, dass sehr viele von denen, die 2016 insgesamt Ressourcen von 30 Milliarden Euro bekamen, auch formal keine Schutzsuchenden sind (eine halbe Million von ihnen bereits abgewiesen, sind aber immer noch da), abgesehen also davon: mittlerweile Tausenden seit 2015 von Schutzsuchenden belästigten und vergewaltigten Frauen geht es nicht schlechter. Den Hinterbliebenen der Opfer des Breitscheidplatzes geht es nicht schlechter. Den Toten geht es sowieso nicht schlechter. Der Krankenschwester, die sich nach dem Nachtdienst ein Taxi nehmen muss, um nach Hause zu kommen, geht es nicht schlechter. Bürgern, die heute durch Polizeikordons und an Merkelsteinen vorbei auf Volksfeste laufen - wenn sie es denn tun - geht es nicht schlechter. Schwulen, die in Berlin und anderswo auf der Straße von arabischen Jungmännern immer häufiger belästigt und zusammengeschlagen werden, geht es nicht schlechter.
Sie leben alle im besten Deutschland, das es je gab, weigern sich aber, das anzuerkennen. Ja, viele weigerten sich am 24. 9. überhaupt, ihren Stimmentribut zu entrichten. Qualitätsmedienfunktionäre haben schon erkannt, worin das Problem Deutschlands liegt, neben der Schaffung eines digitalen Binnenmarktes: in der Anwesenheit des ostdeutschen Mannes.
Journalisten, die Merkel von Gesprächen kennen, versichern regelmäßig, sie sei zwar rhetorisch unbeholfen, vor allem bei öffentlichen Auftritten, aber sie sei dafür ungewöhnlich intelligent und mit einer feinen politischen Witterung ausgestattet. Ich fürchte fast, Merkel gratuliert umgekehrt H.-U. Jörges, Heribert Prantl und Anja Reschke zu deren flamboyantem Scharfsinn.