Oliver Marc Hartwich, Gastautor / 24.04.2015 / 03:15 / 1 / Seite ausdrucken

Die Briten zwischen Baum und Borke

Bis zu den Parlamentswahlen im Vereinigten Königreich sind es nur noch zwei Wochen. Normalerweise gibt es in der Endphase des Wahlkampfes schon ein grobes Bild davon, wie die Wähler stimmen werden. Das ist dieses Mal anders. Die Ungewissheit über das Wahlergebnis und seine Folgerungen ist eine der wenigen Gewissheiten.

Seit Monaten liefern sich Labour und die Konservativen ein Kopf-an-Kopf-Rennen in den Umfragen. Beide kommen nicht über 30 bis 34 Prozent hinaus. Auch im britischen Mehrheitswahlsystem ohne Listenplätze, in dem jeder Abgeordnete direkt gewählt wird, lässt sich damit keine absolute Mehrheit im Parlament erringen. Sowohl die Torys von David Cameron als auch die Labour-Partei von Ed Miliband kämen so auf jeweils rund 270 Sitze, deutlich weniger als die für eine Mehrheit erforderlichen 326 Sitze. Keine der beiden Parteien könnte sich so ein klares Mandat zum alleinigen Regieren sichern.

Damit richten sich alle Augen auf die zahlreichen kleineren Parteien. Die Liberaldemokraten, derzeit in einer Koalition mit den Konservativen, könnten sich dieses Mal glücklich schätzen, ein zweistelliges Ergebnis zu erzielen (nach 23 Prozent vor fünf Jahren). Die UK Independence Party (UKIP) könnte deutlich über zehn Prozent der Stimmen kommen und trotzdem bei der Sitzverteilung leer ausgehen. Ähnliches gilt für die Grünen mit voraussichtlich um die 5 Prozent.

Zünglein an der Waage könnte jedoch die Scottish National Party (SNP) spielen. Für sie wird ein Erdrutschsieg in Schottland prognostiziert, der ihr 55 der 59 schottischen Sitze einbringen würde.

Ab dem 8. Mai wird sich wohl eine von drei Möglichkeiten herauskristallisieren. Leider erscheint keine von ihnen besonders attraktiv. Das britische Parlament könnte sich in einer Pattsituation ohne regierungsfähige Mehrheit finden. Auch eine Labour-Regierung, die von den Stimmen der schottischen Nationalisten gestützt wird, wäre möglich. Schließlich könnte es zu einer Fortsetzung der gegenwärtigen Koalition aus Konservativen und Liberaldemokraten kommen, wofür aber die Unterstützung von Splitterparteien nötig wäre.

Politische Stabilität ließe sich mit keiner dieser möglichen Regierungen erreichen. Eine Minderheitsregierung, ob unter Führung von Labour oder den Konservativen, könnte die Verfasstheit des Königreiches in Frage stellen. Außerdem wäre keine dieser Konstellationen in der Lage, die langfristigen Herausforderungen des Landes ernsthaft anzugehen.

Diese Herausforderungen lassen sich in wenigen Zahlen zusammenfassen. Die Kreditaufnahme des Vereinigten Königreiches beträgt dieses Jahr etwas mehr als 90 Milliarden Pfund Sterling, entsprechend knapp 6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Zum Vergleich: das griechische Budgetdefizit ist soeben auf nur 3,5 Prozent gefallen. Zwar ist das britische Defizit jetzt niedriger als vor sechs Jahren, als es bei atemberaubenden 11 Prozent stand. Für eine Volkswirtschaft, die aktuell mit 2,8 Prozent jährlich wächst, ist das trotzdem viel zu hoch.

Wenn der Haushalt trotz dieser erfreulichen Wachstumsrate nicht mit einem Überschuss bilanziert, stellt sich die Frage, wie er im Fall eines negativen Schocks aussähe.

Anlass zur Sorge gibt auch der Stand der britischen Staatsschulden, derzeit beinahe £1,5 Billionen. Bei mehr als 90 Prozent des BIP sind sie nunmehr auf beinahe die doppelte Höhe angewachsen, die sie in den 20 Jahren vor der globalen Finanzkrise betrugen. Dieser Wert liegt außerdem näher an der französischen als der deutschen Staatsschuld.

Für jede zukünftige britische Regierung müsste daher eine Reduzierung der Schulden und des Defizits vorrangig sein. Um ein ungeliebtes Wort auszusprechen: es wäre eine Sparpolitik. Aber in diesem Wahlkampf hört man nicht viel von Sparpolitik, im Gegenteil.

Labour hat versprochen, die Schatulle für Mehrausgaben im Gesundheitswesen und für eine Senkung der Studiengebühren zu öffnen. Angeblich soll dies – wie alle anderen Forderungen im Labour-Parteiprogramm – aufkommensneutral sein und ohne eine weitere Kreditaufnahme finanziert werden können. Die Torys versprechen ihrerseits, noch mehr teure Wahlgeschenke zu verteilen. Zum Beispiel kostenlose Kinderbetreuung für arbeitende Ehepaare oder massive Preisnachlässe für den Erwerb von Wohneigentum aus kommunalem Besitz. Auch sie versprechen, dies werde die angestrebte Haushaltskonsolidierung nicht gefährden.

Die ungewissen Mehrheitsverhältnisse im kommenden Parlament erklären vielleicht diese programmatischen Versprechungen. Wenn keine Partei davon ausgehen kann, eine absolute Mehrheit zu erringen, wird es keinen Mangel an Ausreden geben, falls Versprechungen sich als unerfüllbar erweisen.

Abgesehen von den fiskalischen Herausforderungen wird auch die Verfasstheit des Landes nach der Wahl am 7. Mai einer Nagelprobe unterzogen. Bei einem Sieg von Labour wird es von den schottischen Nationalisten abhängig sein. Diese unterlagen letztes Jahr beim Referendum über eine Abspaltung Schottlands, werden aber ihren Einfluss auf Labour nutzen, um eine noch größere Übertragung von Rechten auf Edinburgh zu verlangen und so den Weg für ein weiteres Referendum zu bereiten.

Eine von der SNP gestützte Labour-Regierung würde also nicht nur die Koordinaten der Politik weit nach links verschieben. Sie würde auch den Fortbestand des Vereinigten Königreichs in Frage stellen.

Ein Tory-Sieg wäre nicht weniger problematisch. Premierminister David Cameron hat versprochen, bei einer Wiederwahl ein Referendum über ein “Rein oder raus” von Großbritannien innerhalb der EU abzuhalten. Cameron will sowohl die Konditionen für die britische Mitgliedschaft als auch die Ausrichtung der EU neu verhandeln und mit dem Ergebnis vor die britischen Wähler treten.

Was dabei herauskommen wird, lässt sich unschwer vorhersagen. Die EU wird mit Konzessionen geizen, und Cameron wird trotzdem die Brosamen, die er bekommt, als großen Erfolg feiern. Am Ende könnte die euroskeptische britische Wählerschaft – angefeuert von einer zunehmend euroskeptischen Medienlandschaft – für einen „Brexit“ stimmen: einen britischen Austritt aus der Europäischen Union.

Die beiden wahrscheinlichsten Szenarien nach den Wahlen beinhalten also entweder eine massive Kampagne zugunsten einer Unabhängigkeit Schottlands und damit eine Spaltung des Vereinigten Königreichs, oder eine Lage, in der das Königreich die EU verlässt.

Keine dieser beiden Optionen ließe sich leicht von Großbritannien bewältigen. Auch würde keine von ihnen das fiskalische Damoklesschwert, das über der Zukunft des Landes schwebt, in den Griff bekommen.

Auch nach den Wahlen am 7. Mai werden die realen und existentiellen Probleme Großbritannien einer Lösung harren.

Angesichts eines neuerlichen Booms auf dem Markt für Wohneigentum und ansehnlichen Wachstumsraten könnten die Briten verleitet sein zu denken, sie hätten die Wirtschaftskrise hinter sich gelassen. Die wirklichen britischen Probleme verlangen jedoch immer drängender nach einer Lösung. Die Auseinandersetzung findet an mehreren Fronten statt: es geht um die Verfasstheit Großbritanniens, seine Staatsfinanzen und seine Mitgliedschaft in der EU.

Es bleibt abzuwarten, ob Großbritannien nach einer Wahl noch regierbar ist, die wohl ein Parlament hervorbringen wird, das einem Verhältniswahlsystem mehr ähneln wird als einem Mehrheitswahlsystem.

Klare Vorhersagen über die Wahlen im Vereinigten Königreich sind Mangelware, mit einer Ausnahme: es wird nach dem 7. Mai nicht leichter sein, das Land zu regieren.

Vielleicht sollten wir uns mehr Sorgen über eine zukünftige politische Lähmung Großbritanniens, einen Brexit oder ein Zerbrechen des Vereinigten Königreichs machen, als über die derzeitige Lage in und um Athen?

Dr. Oliver Marc Hartwich ist Executive Director der The New Zealand Initiative.

‘Britain’s choice between the devil and the deep blue sea’ erschien zuerst in Business Spectator (Melbourne), 23. April 2015. Übersetzung aus dem Englischen von Eugene Seidel (Frankfurt am Main).

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Ralf Orth / 24.04.2015

Sie schreiben zum Brexit: “Keine dieser beiden Optionen ließe sich leicht von Grossbritannien bewältigen” warum sollte ein von der EU etwas unabhängigere Grossbritannien oder eventuell nur noch England + Wales sonderlich problematisch sein? Die Schweiz ist doch auch nicht in der EU und existiert damit nicht schlecht. Für GB steht dann ja auch noch die Möglichkeit im Raum die Nafta zu erweitern.

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