Burkhard Müller-Ullrich / 24.06.2016 / 19:16 / Foto: Ralf Roletschek / 1 / Seite ausdrucken

Die Brexit-Nacht und der Journalismus: Eat your words

Die Brexit-Nacht hat wieder mal gezeigt, was für eine unerquickliche Sache Journalismus auch sein kann. Dabei wurden auf der Entertainment-Skala durchaus Maximalwerte erreicht. Denn selten ist ein Wahlausgang so spannend. Die Engländer sind eben Meister des Suspense – nicht nur auf dem Gebiet der Literatur und des Films.

Nein, unerquicklich, geradezu niederschmetternd ist die Tatsache, daß der ganze auf Hochtouren fahrende Medienbetrieb nicht nur in Großbritannien stundenlang in die falsche Richtung raste. Als sich mitten in der Nacht der Trend umkehrte, wurde alles bis dahin Gesagte auf erschütternde Weise obsolet. Von da an mußten die Kommentatoren, Moderatoren und sonstigen Toren ihre, wie man in England sagt, eigenen „Worte aufessen“.

Was für eine Verschwendung von Spucke und Energie! Was für ein blöder Beruf, in dem man vor Mikrofon und Kamera endlose Diskurse über etwas führt, das sich kurz darauf als gegenstandslos erweist! Gut, sagen die einen, das ist nun mal das Risiko: Wir müssen die Wirklichkeit mitsamt den laufenden Veränderungen abbilden.

Aber diese Betrachtung hat einen Fehler: die Wirklichkeit hat sich nämlich gar nicht verändert, sondern sie war bloß noch nicht bekannt. Allerdings war klar, daß sie bekannt werden würde. Man wollte nur nicht abwarten (alte englische Tugend). Jeder Sender, ob BBC, ARD, ZDF oder Deutschlandfunk, hat Angst vor dem Abwarten, weil es das Risiko des Zuspätkommens einschließt.

Deshalb werden unzählige Stunden Sendezeit mit Berichterstattung im Konjunktiv gefüllt; die Möglichkeitsform ist das journalistische Werkszeug, mit dem man Tatsachen zum Verschwinden bringt und sie durch Befürchtungen oder Erwartungen ersetzt. Dieser Angriff der Gegenwart auf die Zukunft gehört schon längst zum Medienalltag. Man möchte schnell erscheinen, schneller als das Geschehen selbst, indem man es in der Sphäre der Virtualität überholt.

In der Realität jedoch sah das so aus: Die Medienleute präsentierten atemlose Hochrechnungs-Orgien (alle falsch), ließen Experten endlose Betrachtungen über die Remain-Folgen anstellen (alle sinnlos), wiederholten im Fünf-Minuten-Takt irrige Prognosen und irrelevante Teilergebnisse und zeichneten einen ganzen Abend lang das Bild einer Welt, die am nächsten Morgen einfach nicht existierte.

Wer vorgestern mit der deprimierenden Perspektive eingeschlafen ist, daß Brüssel einen Freibrief für jeden weiteren Schritt in Richtung totalitärer Bürgerverachtung bekommt, der hat sich gestern beim Aufwachen gefragt, warum ihm dieser unnötige Ärger nicht erspart bleiben konnte. Sicher: letztlich sind wir Konsumenten selbst dafür verantwortlich, was wir konsumieren. Es zwingt einen ja niemand, die audiovisuellen Nullnachrichtenshows von Anfang bis Ende zu verfolgen. Aber wir ahnen schon, auf welchen Höhepunkt leeren Gequassels wir uns bei der US-Präsidentenwahl am 8. November einzustellen haben.

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Joerg A. Ehm / 25.06.2016

Wunschdenken. (Fast alle Medienvertreter heutzutage wollen nicht berichten, sie wollen erziehen. Das Problem in ihren Augen ist nicht schlechte Politik, nein, die gute Politik wird vom Bürger nicht verstanden, sie muss ihm vermittelt werden, er muss mitgenommen werden. Manchmal gewinnt man den Eindruck, die meinen, mit falschen Prognosen etc. tatsächlich bereits feststehende Ergebnisse beeinflussen zu können. Und siehe da: in Österreich ist das möglicherweise wirklich schon einmal gelungen…)

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