Wer sich über den Verlauf und den Ausgang der Wahlen in Russland wundert, der sollte sich besser über Russland insgesamt wundern. Denn was die Wahlen vom Sonntag uns bescherten, ist nichts weiter als der Ausdruck des Zustands der russischen Gesellschaft. „Sicher, es steht wenig zur Wahl“, konzedierte der Schriftsteller Wladimir Kaminer am Samstag gegenüber der FR, um wie folgt fortzufahren: „Das heißt aber nicht, dass es keine Demokratie ist. Es ist eine andere Form davon.“
Eine andere Form von Demokratie?…
Es ist zwar nicht neu, dass man der Demokratie gerne etwas hinzufügt, und zwar jeweils aus der Interessenlage heraus, aber die Hinzufügenden sind in der Regel keine Demokraten. So sprachen die Kommunisten mit Vorliebe von Volksdemokratie und die Islamisten haben das nachhaltige Bedürfnis, die von ihnen kontrollierten Staaten als islamische Republiken zu bezeichnen. Schon ein kurzer Ausflug in die Thematik zeigt, dass jede Hinzufügung eine Einschränkung benennt oder gar verschleiert. Was ist eigentlich ein lupenreiner Demokrat? Ist er mehr als ein Demokrat und damit nicht auch etwas weniger als dieser?
Die Demokratie braucht keine Attribute. Das sollte auch für Russland gelten. Dessen Problem ist allerdings ein grundsätzliches, und mit der Frage nach dem Zustand der Demokratie nur bedingt zu beantworten. Die Frage, wie viel Demokratie in Russland erlaubt ist, weicht bei genauerem Hinsehen bald der Frage danach, wie viel Demokratie Russland verträgt. Es ist die Frage nach den Grundlagen. Diese aber fehlen.
In Russlands Geschichte wurde immer nur die Frage nach der Autorität gestellt und niemals die Frage nach dem Recht. Law and Order fielen nicht auseinander, sie sind niemals zusammengekommen. Das war im Zarenreich so und in der Sowjetunion nicht anders. Wenn es aber nicht ums Recht geht, so kann es nur um die Kontrolle gehen. Das Ende der Sowjetunion wurde im Zusammenbruch der Autorität sichtbar. Wenn es in Russland jemals einen Konsens gab, dann bestand er in der Angst vor dem Zerfall der Autorität.
Sie steuert die russische Mentalität, die in allen Zeiten von drei Grundüberzeugungen getragen wurde: der Verpflichtung zur Orthodoxie, der Bedrohung von außen, die nur durch die Militärmacht abgewehrt werden könne, und der Angst vor der Anarchie im Inneren.
Der geringe zivile Organisationsgrad der Gesellschaft kann die kollektiven Angstphantasien der Bevölkerung offensichtlich nicht auffangen. In einer solchen allgemeinen Verunsicherung kann selbst Öffentlichkeit als eine Gefahrenquelle gelten. Je mehr man über ein Problem öffentlich spricht, desto größer erscheint das Problem in den Augen der nervösen Kollektivität. Die Demokratie aber gerät in den Ruf an den Grundlagen der Autorität zu rühren.
So ist man in Russland mit wenig zufrieden. Hauptsache die Gehälter werden bezahlt und die Renten. Wichtig ist die Existenz eines unangefochtenen Machtzentrums, des Kreml. Was sich in ihm wirklich abspielt, ob man dort tatsächlich „Deep Purple“ hört, wie Kaminer uns verrät, ist für große Teile der Bevölkerung ohne Bedeutung, solange der Kreml ungebrochen Autorität ausstrahlt. Die Wahl ist, selbst wenn sie keine Farce ist, nur ein schlichtes Plebiszit, eine Akklamation für die Autorität. Mit Putin ist diese Grundregel wieder hergestellt worden. Der Kreml kontrolliert die Eliten und manipuliert die Bevölkerung. Die Eliten, die die Lektion gelernt haben, akzeptieren es und die Mehrheit der Bevölkerung findet es gut.