Gerd Held / 30.11.2015 / 06:30 / 3 / Seite ausdrucken

Die Abwägung „Freiheit gegen Sicherheit“ führt in die Irre

Wenn in einer kritischen Lage die politische Diskussion sehr schnell auf eine Formel gebracht wird, sollte man skeptisch werden. So ist es jetzt nach dem Terrorangriff auf Paris. Die Aufgabe der Politik sei es, so hört man von vielen Seiten, „zwischen Freiheit und Sicherheit“ abzuwägen. Das klingt irgendwie groß, es deutet ein Prinzipien-Dilemma an. Und am Ende hat es etwas Tragisches: Vor eine solche Wahl gestellt, mag man sich gar nicht entscheiden. Die Alternative „Freiheit oder Sicherheit“ ist eine lähmende Alternative.

Das liegt daran, dass die beiden Pole viel zu absolut sind. Sie hängen viel zu hoch im Wertehimmel, um miteinander abgewogen werden zu können. „Die Sicherheit“ – kann es sie in der gegenwärtigen Lage überhaupt geben? Gefahrenabwehr stände vielleicht als Handlungsoption bereit, aber Sicherheit? Das Wort klingt allzu sehr nach Ruhe, nach einem Zustand ohne jedweden unberechenbaren, äußeren Einflussfaktor. „Sicherheit“ ist in modernen Zeiten eigentlich keine Option, und sie ist es nach dem Terrorangriff auf die französische Hauptstadt noch weniger. Wird die Diskussion unter so einen Leitwert gestellt, werden nur die praktischen Maßnahmen entwertet, die zu treffen sind.

„Sicherheit gibt es doch gar nicht“, raunen die Defätisten. Oder es wird das Gespenst eines absoluten Sicherheitsstrebens an die Wand gemalt, um damit zu zeigen, dass durch dies Streben der andere Leitwert („die Freiheit“) zerstört würde. Das, was verteidigt werden soll, wird zunichte gemacht, lautet die Behauptung. Geben wir unsere freiheitliche Lebensweise auf, wenn wir Datenspeicherung, Überwachungskameras und Grenzkontrollen ausbauen? Gewiss nicht. Doch wird dieser Eindruck erzeugt, wenn man solche praktischen Abwehrmaßnahmen unter dem Absolutum „Sicherheit“ in die Diskussion einführt. Und schon ist man gelähmt. Der Tausch Freiheit gegen Sicherheit wäre ja wirklich ein schlechter, ein absurder Tausch.

Die Abwägung „Freiheit gegen Sicherheit“ führt auch deshalb in die Irre, weil „Freiheit“ hier viel zu abstrakt als reiner Wert gesetzt wird. Sind die Bürger Frankreichs, Deutschlands und anderer Länder nach dem Terrorangriff wirklich frei? Sie sind es nicht. Ihre Freiheit ist durch die Kriegshandlungen der Terroristen gegen zivile Ziele, gegen Sportstadien, gegen Konzerthallen, gegen Straßencafés, erheblich beeinträchtigt. Jeder Bürger lebt nun unter einer Drohung, insbesondere bei der öffentlichen Wahrnehmung seiner Freiheitsrechte. Wer verspürt nicht zumindest ein leichtes Unbehagen und Zögern, wenn er in belebte S-Bahnhöfe geht? Versucht nicht auch der Mutige insgeheim und ganz unwillkürlich, durch Beobachtung Gefahrenherde zu entdecken? Dabei gehört es zum Ideal einer reinen, unbeschwerten Freiheit, dass von ihr ohne Vorkehrungen und überall Gebrauch gemacht werden kann. In diesem Sinn existiert die öffentliche Freiheit nicht mehr – und das liegt nicht an den Sicherheitsmaßnahmen von Polizei und Militär, sondern am Terror. Vom Terror aber und von der durch ihn geschaffenen Situation ist merkwürdigerweise in der Alternative „Freiheit oder Sicherheit“ gar nicht die Rede.

Das gilt noch in einem anderen Sinn. Der islamistische Terror ist nicht nur eine Bedrohung, er hat schon Tatsachen geschaffen. Die Toten sind da und sie bleiben da. In Gestalt der Ermordeten von Paris ist die Freiheit verletzt. Denn die Freiheit existiert nicht nur in den jetzt lebenden Individuen. Sie existiert auch in einem ganzen Volk und in denen, die einem Anschlag auf die Freiheit zum Opfer fielen. Was diesen Einzelnen angetan wurde, wurde einem ganzen Volk angetan. Ein Volk kann nicht in Freiheit leben, dass nur an die eigene Bedrohung denkt und, dann doch wieder, auf eine Rückkehr zur sogenannten „Normalität“ hofft. Ein solches Zurück gibt es nicht. Die Toten von Paris sind eine offene Wunde in unserer Freiheit.

Das Wort von der „Bedrohungslage“ sagt hier zu wenig. Der Ernstfall ist schon eingetreten und hat sich auf Dauer in Europa eingenistet. In diesem Sinn sind Frankreich und Europa schon vom Terror besetzt. Die Aussage des französischen Präsidenten, dass sein Land sich „im Kriegszustand“ befinde, ist keine Rhetorik. Mehr als alle Bekundungen der Betroffenheit gibt sie den Opfern des Angriffs auf die französische Hauptstadt erst ihre wahres Gewicht und einen Platz in der Geschichte Frankreichs und Europas. 

Man sollte nicht so tun, als könnte man nun einfach „unsere westliche Lebensart“ weiterführen. Die federleichte, spielerische Freiheit steht nicht mehr zur Verfügung. Sie ist keine Option mehr. Freiheit ist in diesen Zeiten nur in eingeschränkter Form zu haben. 

So ist die Wahl, die Politik und Bürger jetzt zu treffen haben, nicht die Wahl „zwischen Freiheit und Sicherheit“. Es ist die Wahl zwischen zwei Einschränkungen der Freiheit: Auf der einen Seite stehen die Einschränkungen der Freiheit durch Terrorakte, Drohungen und Erpressungen. Sie können zu einem Zustand führen, indem eine Politik des Terrors über das Maß unserer Freiheit bestimmt. Auf der anderen Seite stehen die Einschränkungen, die die Maßnahmen von Polizei und Militär mit sich bringen. Sie können dazu führen, dass sich unsere Freiheit dauerhaft den Bedingungen der Wehrhaftigkeit fügen muss. Die Bürger müssen mit den Belastungen der Konfrontation leben, aber die Freiheit gehört noch ihnen und sie müssen niemanden um Erlaubnis fragen. 

Das ist die reale Wahl, die die Völker der freien Welt jetzt haben. Die meisten werden – vielleicht nach einigem Zögern und sicher nicht ganz einstimmig - die zweite Option wählen. Sie entscheiden sich dafür,  nicht weil sie Sicherheitsfanatiker sind, sondern weil sie nüchtern Abwägende sind. Sie nehmen die Wehrhaftigkeit, die sie durchaus als Belastung empfinden, als vernünftige Belastung in Kauf.

Sie treffen diese Entscheidung, weil sie den Terrorismus unserer Gegenwart ernst nehmen als einen Feind der Menschheit. Als eine totalitäre Tendenz, deren Ausbreitung durch kein inneres Gegengewicht gehemmt wird. In diesem Sinn ist „totalitär“ kein rhetorischer Ausdruck. Und die nüchterne Wahl zwischen zwei Einschränkungen der Freiheit ist exakt die Wahl, die auch im Kampf gegen den Totalitarismus des 20. Jahrhunderts getroffen werden musste.

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Dr. Gerd Brosowski / 01.12.2015

Sehr geehrter Herr Held, Wie meist in Ihren Beiträgen greifen Sie mit dem aktuellen Problem zugleich ein tiefer liegendes auf. Im vorliegenden Fall ist das ein methodischen Fehler, den Intellektuelle immer wieder und scheinbar allzu gern begehen: Das Jonglieren mit abstrakten, zu weit gefassten Begriffen ( hier: Sicherheit, Freiheit). Dabei tappen sie immer wieder in die gleiche Falle: Ein Begriff wird umso leerer, bedeutungsloser, nichtssagender, je weiter er gefasst ist. Freilich imponiert er zugleich mehr: „Es glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, es müsse sich dazu auch etwas denken lassen“ , wie es Goethe seinem Mephisto in den Mund legt. Und es ist sehr bequem und deshalb verführerisch, mit weit gefassten Begriffen zu hantieren, da die Aussagen dann mangels konkreten Inhalts nicht mehr geprüft werden können. Übrigens ist es dieses Jonglieren mit hochtrabenden, zugleich aber leeren Begriffen und die so betriebene Gaukelei, die Arthur Schopenhauer nicht müde wird, seinem Zeitgenossen Friedrich Wilhelm Hegel vorzuwerfen. Der Ausweg aus diesem Dilemma zwischen Abstraktion und Inhaltsleere besteht darin, konkret zu werden. In Ihrem Beitrag geschieht dies, indem Sie die Befindlichkeit eines jeden Ihrer Leser schildern, wenn dieser zur Zeit einen von vielen Menschen frequentierten Platz, etwa eine überfüllte S-Bahn, betritt. Dann fehlen zwar die bequemen Allgemeinbegriffe zur Beschreibung, dafür gewinnt die Sache aber an Deutlichkeit und Wahrheit: Kompliment und Dank für Ihren Beitrag!

Horst Jungsbluth / 30.11.2015

Es gibt keine absolute Freiheit und es gibt auch keine absolute Sicherheit, aber die Aussage,  dass entweder nur eines von beiden möglich ist, verkennt die Tatsache, dass Freiheit der Sicherheit bedarf und (echte) Sicherheit ohne Freiheit gar nicht möglich ist. Das klingt widersprüchlich, ist aber nicht, wenn man sich nur an die beiden deutschen Diktaturen erinnert, in denen sich viele Bürger zwar nicht frei, aber lange Zeit sicher fühlten, um am Ende frustriert feststellen zu müssen, dass sie weder “das eine noch das andere” waren. Wir erleben heute mit Schrecken, dass unsere ewig “Unverantwortlichen” nichts aus diesen Diktaturen gelernt (oder auch nichts verlernt) haben und uns einreden wollen, das “wir” froh sein müssten. dass “sie” uns die Demokratie großzügig ermöglicht haben. Sie vergessen dabei nicht nur die tatsächlichen Abläufe, sondern auch, dass z. B. die DDR nicht etwa an den Verbrechen der SED gescheitert ist, sondern eher an den verpulverten Milliarden für das angeblich Soziale und für die angebliche Sicherheit.

Thomas Drachsler / 30.11.2015

Sehr geehrter Herr Held, “Wehrhaftigkeit” ist für den gemeinen Westeuropäer, allen voran die dekadenten “Deutschen” keine Option mehr.

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