Fred Viebahn / 04.10.2011 / 15:54 / 0 / Seite ausdrucken

Deutsche Provinz in Virginia

Als ich im August 1989 vom trockenheißen Arizona ins schwüle Virginia zog, gab es an der hiesigen Staatsuniversität gleich eine Enttäuschung: Während meine Frau sich bei einer der besten Anglistik- und Amerikanistikabteilungen der USA verdingt hatte (die staatliche University of Virginia rang mit der privaten Duke University um den ersten Platz und lag damit noch vor Harvard, Yale, Stanford usw.), erwies sich das German Department, die Deutschabteilung, als überraschend schwächlich auf der Brust und so in Atemnot, daß sie an zeitgenössischen Autoren so gut wie kein Interesse zeigte. Vom Dekan erreichte mich ein halbherziger Versuch, mir ein Seminar über deutsche Nachkriegsdichtung anzubieten; die Offerte war jedoch mit einem so lächerlichen Honorar verknüpft, daß ich es ablehnte, meiner Unabhängigkeit für die paar Pennies Hindernisse in den Weg stellen zu lassen. Außerdem fand ich es verdächtig, weil mich keiner von den Germanisten selbst kontaktierte, sondern der Vorschlag sozusagen von schräg oben kam.

Daß es mit ein bißchen Willen, Einsicht und Ringen um die notwendigen Finanzen auch anders geht, hatte ich in meinen ersten amerikanischen Jahren Ende der Siebziger erfahren, während meiner Gastprofessuren in den Germanistikabteilungen der ebenfalls staatlichen University of Texas in Austin und des privaten Oberlin College in Ohio. An beiden Institutionen hatte man, initiiert von unternehmenslustigen und gegenwartsnahen Professoren, Seminare über lebende Literatur etabliert, die bei den Studenten so beliebt waren, daß sie sich um die begrenzte Zahl der Plätze drängten.

An der University of Virginia legte man darauf keinen Wert, ergo verlor ich meinerseits das Interesse an den hiesigen Lokalgermanisten. Zwei jüngere deutsche Fakultätsmitglieder versuchten es ganz am Anfang mal mit ein wenig persönlichem Kontakt, der jedoch flugs einschlief, auch, mea culpa, weil ich bald im regen akademisch-gesellschaftlichen Leben des English Department und den schulisch-sozialen Aktivitäten unserer Tochter an zeitliche Grenzen stieß. Ende der neunziger Jahre kam es nochmal kurz zur Berührung, als auf Initiative der Schweizer Botschaft in Washington ein Freund von uns, der St. Gallener Schriftsteller Christoph Keller, eine Lesung gab; ich wunderte mich nicht, daß sich dazu nur eine Handvoll Studenten einfanden, denn wo nicht gesät wird, gibt’s bekanntlich nichts zu ernten.

Ein weiteres kommunikationsloses Jahrzehnt ging ins Land. Dann, im Herbst 2008, flatterte mir plötzlich die Einladung des German Department zu einer Gründungsveranstaltung ins Haus: Mithilfe einer “großzügigen anonymen Spende” wurde ein Center for German Studies mit interdisziplinären Ambitionen ins Leben gerufen. Zum Direktor des Zentrums war einer der freundlichen Menschen, der ganz zu Anfang meiner Zeit in Virginia ein bißchen Kontakt angebahnt und sich später um Christoph Kellers Lesung gekümmert hatte, berufen worden, und zum Eröffnungsredner hatte man den Chefredakteur der Zeit gewonnen. Da ich auf Reisen war, verpaßte ich die Gelegenheit.

Seitdem spielten Volker, der Zentrumsdirektor, und ich gelegentlich mit kurzen Emails Fangen: Ob ich Lust hätte, mal was im Zentrum vorzutragen.—Ja, sicher, aber wann und worüber?

Irgendwie klappte es nie, und obwohl die Anfragen weder überschwenglich noch dringlich klangen, fühlte ich mich anfangs ein bißchen schuldig, daß ich meinerseits nicht gleich Nägel mit Köpfen machte. Bis ich eine patzig zurechtweisende Email vom Center for German Studies erhielt, weil ich es fertiggebracht hatte, den Link zu einem meiner Achgut-Artikel per Email-Antwortfunktion an den gesamten Mailverteiler der Tollpatsche zu schicken, die wohl noch nie was von Adressensicherung gehört hatten. Statt dankbar zu sein, daß sie mal was Unkonventionelles auf Deutsch zu lesen kriegten, meckerten sie.

Am kleinen Dickinson College in Pennsylvania, keine vier Autostunden von Charlottesville, gibt es wie in Oberlin und Texas Germanisten, die sich für Gegenwartsliteratur begeistern und regelmäßig zum Benefiz ihrer Studenten deutschsprachige Autoren beherbergen. Als ihnen vor anderthalb Jahren Susanne Schädlich die Ehre gab und mich vorher fragte, ob vielleicht die University of Virginia Interesse an einer Lesung oder einem Vortrag haben könnte, fand ich das eine tolle Idee; Susanne schien mir, mit ihrer Verbindung von Literatur und sehr persönlicher deutsch-deutscher Geschichte, perfekt für das Center for German Studies. Also schrieb ich ihnen. Umsonst, nullkomma nichts - eine Antwort blieb aus.

Als ich mich kürzlich durchrang, erstmals zu einem Cocktailempfang des deutschen Studienzentrums zu gehen, war ich trotz dieser Vorfälle eigentlich friedlich gestimmt. Vielleicht ließ sich doch einiges im persönlichen Gespräch klären. Der Empfang fand, wie viele Uni-Ereignisse dieser Art, im Fakultätsklub von Thomas Jeffersons “academical village” statt. Am Eingang steuerte ich auf zwei Damen zu: “Ist Volker hier?” - “Da drüben steht er doch.” - Ich verrenkte mir den Hals—er war halb verdeckt von seinen beiden Gesprächspartnern. “Aja—hab ihn viele Jahre nicht gesehen”, setzte ich überflüssigerweise hinzu. “Sieht aber noch aus wie immer”, sagte eine der Damen; die beiden beäugten mich argwöhnisch—oder bildete ich mir das nur ein? Ich wollte mich ihnen vorstellen, aber da hatten sie sich schon demonstrativ von mir ab- und wieder ihrem Gespräch zugewandt. Also schlenderte ich hinüber zu Volker. “Hallo, Volker, wie geht’s?” “Hallo”, sagte Volker. Mehr nicht. Da er mich nicht vorstellte, stellte ich mich selber vor, und das ältere Ehepaar schüttelte mir die Hand und murmelte artig seine Namen zurück. “Naja”, sagte ich, “schön, endlich hab ich’s mal geschafft.” Volker starrte mich mit einem seltsam gefrorenen Grinsen an. Sein Mund blieb stumm, aber seine Körpersprache schrie: “Wir unterhalten uns gerade, und du störst!” Was mich, gelinde gesagt, verstörte, denn so ein Verhalten ist in Amerika äußerst ungewöhnlich. Bei Cocktailparties und Empfängen wird vornehmlich Small Talk gemacht, und es ist selbstverständlich, daß jedermann sich jederzeit zu jeder Gruppierung gesellen kann und einfach in die laufende Unterhaltung einbezogen wird.

Außer Volker kannte ich in dem Raum keinen Menschen. Also ließ ich mir an der Bar ein Glas Cranberry-Saft einschenken und trat dann ans reichliche Buffett; mit vollem Mund kam ich mir nicht mehr ganz so verlassen vor. Bald gesellte sich eine Studentin zu mir und dem Topf voller Spanakopita; auch sie kannte hier niemanden; sie wartete auf den Professor der Politikwissenschaft, der sie eingeladen hatte, weil sie mit ihm und einer kleinen Gruppe von Politikwissenschaftsstudenten im Frühjahr einige Wochen in Berlin verbracht hatte, um sich über das legislative Wesen in Deutschland zu informieren. Mit Germanistik hatte sie nichts zu tun, mit German Studies nur bedingt etwas. Gemeinsam schauten wir uns um und amüsierten uns damit, sowohl die echten Deutschen wie die Hybridgermanen im Raum zu identifizieren, was nicht einfach war, denn den meisten Hybriden—Deutschprofessoren amerikanischer Herkunft—waren die Gesichtszüge ebenso unamerikanisch verspannt wie den gebürtigen Teutonen. Liegt das an der deutschen Sprache? Nee, kann eigentlich nicht sein, denn in Berlin oder Köln, ja selbst in Garmisch oder Gummersbach findet man heutzutage viele offene junge Gesichter und freundliche Mienen, da hat sich seit den verbiesterten Tagen von annodazumal einiges geändert.

Ich will mir jetzt nicht den Kopf darüber zerbrechen, mühe mich stattdessen, meine amerikanische Wahlheimatseele hervorzukehren und alle unverbindlich anzulächeln, mit denen ich in Blickkontakt komme. Das klappt sonst immer auf allen gesellschaftlichen Ebenen wunderbar; im Nu ist man in die schönsten seichten Gespräche verwickelt. Hier bleibt es jedoch ein erfolgloses Unterfangen; keine Blicke verhaken sich, keine verklemmte Miene weicht auf. Glücklicherweise tritt nun die Dekanin ein, eine gute Freundin meiner Frau, und begrüßt mich mit herzlicher Umarmung. Die Deutschen und Scheindeutschen starren. Immerhin ist Meredith “Dean of Arts and Sciences”, die Chefin von allen, auch wenn die gebürtige Koreanerin von einigen ihrer akademischen Untertanen wohl immer noch mit ressentimentgeladenem Mißtrauen beäugt wird. Sie stellt mir ihren neuen Stellvertreter vor, einen traditionellen “white male” in Schlips und Kragen und mit einer Akten- oder Computertasche über der Schulter, den es erst diesen Sommer aus der Großstadt New York ins ländliche Zentralvirginia verschlagen hat. Wir verstehen uns sofort gut, sprechen über unsere Kinder, während Meredith umherwandert und versucht, die German Studies-Cliquen zu knacken, die sich überall im Raum verkapselt haben. Mit ihrem quirligen Selbstvertrauen und kraft ihres Amtes gelingt ihr das gelegentlich, aber, wie ich zu meiner Verblüffung beobachte, nicht immer. Auch um den stellvertretenden Dekan (“associate dean”) an meiner Seite kümmert sich keiner. Solche Gruppenabschottung hab ich in dreieinhalb Jahrzehnten USA selten, nein, eigentlich noch nie erlebt. Da ich außer dem in der eigenen Pelle Versteck spielenden Volker niemanden kenne und keine Lust habe, mich als unerwünschter Eisbrecher einzusetzen, hole ich mir noch ein Glas Cranberrysaft. “Hallo”, sage ich zu einem bärtigen Professortypen, der sich an der Bar einen Martini mixen läßt, und schmunzele ihn an. “Hallo,” graunzt er und greift nach dem Glas, das ihm der Bartender reicht. “Nette Party”, sage ich. “Jaja”, sagt er—unter dem Bart bleibt die Oberlippe steif—und geht weg. “Who are these people?” frage ich den Bartender rein rhetorisch; ich kenne ihn seit Jahren von Universitätsfestivitäten. “You tell me!” rhetoriert er grinsend zurück.

Eine halbe Stunde hat sich hingeschleppt, da reicht es mir. Ich schaue nochmal zu Volker hinüber, lasse einen letzten kommunikativen Versuchsballon steigen; sein Blick schweift über mich hinweg.  Zum Abschied winke ich Meredith zu, die sich weiterhin den Raum erwandert, und gehe zur Tür. In einem Vorzimmer hockt der stellvertretende Dekan, vertieft in seinen Laptop, neben sich die offene Tasche.

Spät am Abend, kurz vor Mitternacht, schickt mir Volker eine Mail. Er dankt mir dafür,daß ich zum Empfang erschienen bin, bedauert, daß er keine Gelegenheit gehabt habe, mit mir zu sprechen, worauf er sich eigentlich gefreut hätte. Irgendwie sei er von Leuten festgehalten worden. Vielleicht könnten wir uns mal zum Mittagessen oder auf einen Kaffee treffen. Er möchte mir ein bißchen übers Center for German Studies erzählen, möglicherweise könnte ich dazu irgendwie beitragen—man sei dafür offen und würde es begrüßen.

Die Zeiten ändern sich. Oder auch nicht.

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