Wie muß eigentlich jemand im Kopf und in der Seele beschaffen sein, der angesichts eines entsetzlichen Verkehrsunfalls, während die Autobahn mit Toten übersät ist und die eingeklemmten Schwerverletzten aus den Wracks geschnitten werden, am Fahrbahnrand ein Transparent hochhält und für eine Herabsetzung der Höchstgeschwindigkeit demonstriert? Dieses an den Haaren herbeigezogene Beispiel ist noch gar nichts gegen das, was bei uns seit zweieinhalb Tagen wirklich passiert. Da hat sich in einem von uns zwar geographisch, aber nicht zivilisatorisch weit entfernten Land eine Naturkatastrophe von epochalen Ausmaßen ereignet. Ganze Städte wurden ausradiert, mitsamt ihren Bewohnern und der gesamten Infrastruktur. Auch Atomkraftwerke wurden beschädigt und gerieten außer Kontrolle, es bestand die Befürchtung einer zusätzlichen Technikkatastrophe.
Doch die eine Katastrophe war real, die andere existierte nur als Angst-Szenario. Auf dem Leitkultur-Fragebogen für Immigranten kreuzen Sie jetzt bitte an, welche dieser beiden Katastrophen – die bereits eingetretene oder die bloß erwartete – die deutschen Medien fast ausschließlich beschäftigt? Genau. Voller Mißbilligung berichten deutsche Medien, daß die Japaner sich gerade etwas weniger für die Risiken der Kernenergie interessieren als für die Frage, wieviele ihrer Landsleute, Bekannten und Verwandten in diesem Augenblick tot im Meer treiben oder in zusammengestürzten Hausruinen ihren letzten Atemzug tun. Zehntausende, ist eine realistische Annahme. Im glücklichsten Fall nicht ganz so viele wie es in Deutschland Demonstranten gibt, die das gräßliche Geschehen zum Anlaß nehmen, um gelbe Luftballons zu schwenken und in die Fernsehkameras zu grinsen, weil bei ihrer Outdoor-Anti-AKW-Party das schönste Frühlingswetter herrscht.
Vielleicht hat diese Ungeheuerlichkeit ihren Grund in einem gewissen journalistischen Versagen. Als uns am Freitagvormittag die ersten Luftbilder des Tsunami erreichten, sah man, wie eine schmutzige Suppe aus Schiffen, Fahrzeugen, Hausteilen und brennendem Material über Straßen, Felder und bebautes Land toste, und man sah überall sich bewegende Punkte: das waren Autos – deren Fahrer ihrem Verderben vergeblich davonzufahren versuchten. Doch obwohl schon bei diesem Anblick jedem klar sein mußte, daß sich solche Szenen an der ganzen dichtbesiedelten Küste abgespielt hatten, war bis in den Nachmittag hinein nur von ein paar Dutzend, dann von ein paar hundert Toten die Rede. Erst am Abend, als auch die verschwundenen Eisenbahnzüge erwähnt wurden, setzte sich die Formulierung „über 1000 Tote“ durch. Diese Begriffsstutzigkeit, aus dem in Endlosschleife laufenden Anschauungsmaterial naheliegende Schlußfolgerungen zu ziehen, teilten sich Radio- und Fernsehjournalisten noch den ganzen Samstag: niemand traute sich, wenigstens einen Hinweis zu geben, daß die behördlich bestätigten Zahlen der Toten und Vermißten zu diesem Zeitpunkt völlig irrelevant und obsolet sein mußten.
Vielleicht war schlechte Information also mitursächlich für die horrende Pietätlosigkeit der deutschen Atomkraftgegner. Wahrscheinlicher ist etwas anderes: In sechs Wochen steht der 25. Jahrestag des Tschernobyl-Unfalls bevor – ein politischer Großkampf-Anlaß, zu dem die Reden bereits geschrieben, die Filme gedreht und die Kampagnen gestrickt sind. Das Feuerwerk der Agitation mußte nur gezündet werden. Dieses Selbstauslöser-System sollten sich die Grünen patentieren lassen; es funktioniert noch schneller als die Notabschaltung japanischer Kraftwerke.