Gerd Held / 27.02.2016 / 06:30 / 5 / Seite ausdrucken

Deutsche Ideen, europäische Realitäten

Seit dem November 2015 stand ein Versprechen im Raum, auf das sich viele Menschen in Deutschland, die die Politik der Grenzöffnung nicht billigten und doch der Bundeskanzlerin die Treue halten wollten, vertraut haben. Frau Merkel hatte zu diesem Zeitpunkt den Eindruck erweckt, sie sei für eine Begrenzung der Migrationszahlen durch das Mittel der Kontingentierung. Allerdings, so Merkel, müssten es auf jeden Fall „europäische Kontingente“ sein. Das hatten viele Menschen akzeptiert, weil auch ein Datum im Raum stand: Die Entscheidung sollte auf einem EU-Gipfel Anfang 2016 gefasst werden. Damit schien endlich ein greifbares Ziel gegeben. Man würde wissen, woran man ist. Merkel sagte auch zu, eine Bilanz ihrer Grenzöffnungspolitik zu ziehen und mancher wollte darin das Vorzeichen einer Korrektur erkennen. Merkel sei eben doch eine pragmatische und lernfähige Politikerin, deren Langsamkeit letztlich ein Zeichen von Führungsstärke sei - und dem Zusammenwachsen Europas besonders dienlich. Unsere weltweise, vorausschauende Kanzlerin!

Doch nun ist alles ganz anders. Der EU-Gipfel vom 18./19. Februar, der vielerorts zur „Stunde der Wahrheit“ erklärt worden war, behandelte das Migrationsthema nur am Rande. Die Frage einer europäischen zahlenmäßigen Begrenzung verschwand gleich ganz von der Tagesordnung. Um diese Frage soll es auch auf dem nächsten Gipfel Anfang März nicht gehen. Sie ist praktisch zum Tabu-Thema geworden. Dabei waren die Vorgaben für die Festlegung einer Zuwanderungszahl (im Voraus für einen bestimmten Zeitraum) da. Zahlreiche europäische Länder hatten eine solche Zahl für das eigene Hoheitsgebiet schon festgelegt, zuletzt Österreich und Frankreich. Frankreich hatte auch schon klargemacht, dass „Kontingent“ nicht heißen kann, dass man die Hunderttausende von Migranten, die die deutsche Politik angelockt hatte, nun europaweit umverteilt. Souveränität existiert nur als Vorgabe und nicht als nachsorgende Problemverwaltung. Eine Verteilungsquote würde keine Grenzen setzen – sie wäre alles andere als eine Deckelung der Zuwanderung.

Um die aber geht es den Menschen in Europa und auch in Deutschland. Die einzige Vorgabe, die für einen europaweiten Begrenzungsbeschluss fehlt, ist der deutsche Beitrag. Doch nun hat sich gezeigt, dass das Versprechen einer europäischen Begrenzung eine Irreführung der Öffentlichkeit war. Merkel hat die Vorgaben der anderen europäischen Länder nicht aufgegriffen, sondern als „Alleingänge“ kritisiert. Gleichzeitig hat sie bekräftigt, dass sie von ihren Entscheidungen zur Öffnung der deutschen Bundesgrenze, mit der Deutschland in Europa tatsächlich allein dasteht, nicht korrigieren will. So deutlich standen sich deutsche Ideen und europäische Realitäten selten gegenüber.  

Auf dem EU-Gipfel wurde, mit hilfreicher Assistenz von Junckers Kommission, der politische Einsatz, um den es eigentlich geht, – unter eifriger Beschwörung des „Gemeinsam handeln“ – verwässert. Es gehe um „eine Verbesserung der Kontrolle an den Außengrenzen der EU“ laute nun die Formel. Das ist natürlich etwas ganz Anderes als ein messbares Begrenzungsresultat. Als „Verbesserung“ kann man alles Mögliche verbuchen. Selbst wenn die Zahl der Grenzübertritte noch steigt, weil die Grenzmaßnahmen mit dem Druck nicht Schritt halten, kann man trotzdem sagen, man habe „Fortschritte“ bei der Kontrolle gemacht. Und überhaupt seien die Dinge damit „auf einen guten Weg gebracht“. Das gilt offenbar von nun an als die EU-Formel im Umgang mit der Migrationswelle. Es ist eine sehr „deutsche“ Formel.

In einem Interview, das der Kanzleramtsminister und Flüchtlingskoordinator Altmaier der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gegeben hat (FAZ 24.2.16), gibt es eine bemerkenswerte Passage. Er spricht von einer „Grundsatzdebatte“, die in der EU geführt werde, und sich um Frage drehe: „Sollen wir das Problem gemeinsam lösen, oder soll jeder Staat es für sich versuchen, notfalls auf Kosten der jeweiligen Nachbarn?“ Altmaier fährt dann fort: „Auf dem EU-Gipfel haben wir mit Blick auf den nächsten Gipfel einstimmig beschlossen, den europäischen Weg zu gehen“. Das ist eine grobe Irreführung. Keineswegs hat der EU-Gipfel beschlossen, dass ausschließlich Initiativen legitim seien, die von allen EU-Ländern getragen werden. Das Treffen, das Österreich mit weiteren südosteuropäischen Ländern zum Grenzschutz auf der Balkanroute durchführte, hat gezeigt, dass gezielte Maßnahmen sehr wohl im Kreise der direkt betroffenen Staaten verabredet werden können. Die Alternative „entweder Gesamt-EU oder eine Nation alleine“ ist eine bewusste Verfälschung der tatsächlichen Alternativen. Sind die einzelnen Initiativen von kleineren Ländergruppen etwa uneuropäische Umtriebe?  

Auf jeden Fall ist nun klar, dass Frau Merkel der Verweis auf europäische Lösungen nicht dazu diente, den Rahmen für eine Korrektur der deutschen Politik zu bauen. Europa wird von Deutschland nur als nachgeordnete Größe behandelt, die dazu da ist, die immensen Folgelasten der deutschen Politik zu tragen. Die Bundesregierung hätte vielfach Gelegenheit gehabt, den Partnern zu signalisieren, dass sie zu einer Verständigung über eine gemeinsame Obergrenze bereit ist. Sie hat es nicht getan. Im Gegenteil tut die Bundesregierung so, als sei ihr Kurs der eigentliche europäische Kurs. Wie dummdreist ist die Behauptung Merkels, die Forderung nach Kontingenten sei lächerlich, weil die beschlossene Verteilung von 160000 Migranten nicht geklappt habe! Hätte Deutschland nicht eine Million illegaler Migranten in die Mitte Europas geholt und würde es diesen Kurs nicht stur fortsetzen, würden seine Nachbarn – wie bei anderer Gelegenheit durchaus erwiesen – natürlich ihre beschlossene Zahl erfüllen. Wie arrogant müssen solche Sätze in den Ohren anderer Europäer klingen.

Es ist nun deutlich geworden, wie sehr die deutsche Politik durch das Kanzleramt tatsächlich für die Zukunft festgelegt hat. Der Grenzöffnungsbeschluss vom September war kein Schnellschuss, keine spontane humanitäre Geste. Er war Teil einer Strategie. Die Vorstellung, wir hätten eine Kanzlerin, die angesichts der inzwischen sichtbaren Folgen ihrer Entscheidung umzusteuern versucht, ist Wunschdenken. Eine kritische Bilanz? Ein Begrenzungsbeschluss? Alles abgesagt. Das hat zu einer tiefen Entfremdung zwischen Deutschland und den europäischen Partnerländern geführt. Man misstraut Merkel, weil man sieht, dass sie angesichts der Migrationswelle die Realitäten in Europa nicht mehr zur Kenntnis nimmt, und fühlt sich hintergangen.

Und die Deutschen? Vielen Menschen wird erst in diesen Tagen und Wochen allmählich klar, in welche unendliche Zwangsgeschichte sie da versetzt sind. Bisher glaubten doch sehr viele, dass es sich um eine einmalige Entscheidung handelte. Alles könne wieder in die gewohnten Bahnen zurückfinden. Das erweist sich jetzt als Täuschung. Es gibt kein Licht am Ende des Tunnels. Aber viele Irrlichter und Scheinlösungen. Von einem redlichen Verhältnis dieser Kanzlerin zu den Deutschen kann nicht mehr die Rede sein. 

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Gerald Friedrich / 28.02.2016

Zitat: - Es ist nun deutlich geworden, wie sehr die deutsche Politik durch das Kanzleramt tatsächlich für die Zukunft festgelegt hat. Der Grenzöffnungsbeschluss vom September war kein Schnellschuss, keine spontane humanitäre Geste. Er war Teil einer Strategie. Spätestens seit 2012: www.bbc.com/news/uk-politics-18519395 - The EU should “do its best to undermine” the “homogeneity” of its member states, the UN’s special representative for migration has said. Die Rede ist vom ehemaligem EU-Kommissar en.wikipedia.org/wiki/Peter_Sutherland der in den letzten 30 Jahren so ziemlich jeden wichtigen Post weltweit innehat oder innehatte, zu dem man ernannt und nicht gewählt wird. Er hat letztlich nur in einem Satz auf den Punkt gebracht, was erklärtes Ziel der EU schon lange ist: Die Überwindung des Nationalstaats zugunsten multikultureller, multiethnischer und multireligiöser Communities unter EU-Vorsitz. Teile und herrsche. @Wolfgang Schäfer ich hoffe, dies beantwortet ihre Frage

Gerhard Huitl / 28.02.2016

Ihre schlüssigen Ausführungen kann ich nur teilen Herr Held, obwohl auch ich mich, wie Herr Wolfgang Schäfer frage, worin Merkels Strategie in ihrem Grenzöffnungsbeschluss vom September gelegen haben soll. Andererseits - gibt es irgendeine theoretische Überlegung, die ein unterstelles geplantes Handeln unserer Kanzlerin die Situation verbessern würde?

Marion Köhler / 28.02.2016

Sehr geehrter Herr Held, es ist für mich immer förderlich, wenn ich von Beruferenen meine Meinung bestätigt bekomme. Das gibt mir Auftrieb , weiter in meiner Partei (CDU) zu kämpfen, dass sich Leute finden, dem Merkelregime ein Ende zu machen. Denn freiwillig wir diese machtbesessene Frau nicht gehen. Da ich vor 26 Jahren aktiv mitgeholfen habe, dass die Wende friedlich von statten ging und wir zu demokratischen Verhältnissen kommen könnten, bin ich heute entsetzt, wie alle Mahnungen, Vorschläge und Kritiken bei der Kanzlerin und ihren Getreuen ins Leere laufen .und was mich am meisten erschüttert, dass sich die Menschen gegenseitig mißtrauen, Dass sie so eine Angst heben als Rechte zu gelten.. So etwas habe ich 1989 nicht erlebt, jetzt sind wir bei 1933. Der Hass , geschürt von den Politikern, ist erschreckend. Es fehlen prominente Menschen wie zB Kurt Masur , die damals dafür gesorgt haben, dass es friedlich blieb. Ich kann nur hoffen, dass Vernunft und Verstand bald regieren, ehe es zu spät ist. Mit freundlich Gruß Marion Köhler

Wolfgang Schäfer / 27.02.2016

Sehr geehrter Herr Held, ich werde aus Ihrer Schlussfolgerung nicht schlau. Sie schreiben: “Der Grenzöffnungsbeschluss vom September war kein Schnellschuss, keine spontane humanitäre Geste. Er war Teil einer Strategie.” Welche Strategie soll das denn sein ?

Magdalena Schubert / 27.02.2016

Jedesmal wenn ich so einen schlüssigen, brillant auf den Punkt gebrachten Beitrag auf der Achse lese, denke ich mir inständig: den müssten ALLE Politiker und ALLE Journalisten vorgelegt bekommen. So dumm und so blind kann man doch garnicht sein, dass man die enormen Gefahren dieser Politik nicht erkennt! Dass man nicht sieht, wohin dieser deutsche Alleingang führt - nämlich in den Untergang! Nein, von einem redlichen Verhältnis der Kanzlerin zu ihrem eigenen Volk kann wahrhaftig nicht mehr die Rede sein. Wir existieren offensichtlich in ihrem Denken nicht mehr. Ihre Sorge, ihr Augenmerk gilt einzig und alleine den Massen von illegalen Migranten, zu deren Fürsprecherin und Beschützerin sie sich auserkoren fühlt und denen sie überaus großzügig, wissentlich und willentlich unser Heimatland offeriert.

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