Denkt man an Deutschland, so denkt man zuerst an Maschinenbau, Blasmusik und Adolf Hitler. Denkt man an Frankreich, so denkt man an Camembert, Baguette und Rotwein. Zum Glück sind beide Klischees denkbar ungerecht. Bei Deutschland soll es noch einige geben, die auch an Goethe, Schiller und Beethoven denken. Und für Frankreich gilt: die Kombination von Camembert und Rotwein ist in Genießerkreisen ungefähr so hoch angesehen wie Labskaus. Oder Fish ’n’ Chips. Wenn etwas, entgegen aller Fernsehwerbung, nicht zusammen taugt, dann ist es Rotwein und Weichkäse. Das Schmierige vom Weichkäse stülpt sich wie eine fettige Gesichtsmaske über die Geschmacksknospen und lässt jeden trockenen Rotwein wie Metall schmecken. Kann man mal ausprobieren. Muss man aber nicht.
Was die Franzosen jedoch geschafft haben: denkt man an Frankreich, denkt man an Genuss und savoir vivre. Vor allem französischer Wein ist aus den Kellern der Genießer aus aller Welt nicht wegzudenken. Er ist die Benchmark, der von anderen Ländern unerreichte Standard, wenn es um Größe, Erhabenheit und Reifepotential von Wein geht. Und wenn es um Hochpreisigkeit geht. Mit dem Jahrgang 2009 knackte das erste Mal eine Vielzahl französischer Weine die bis dahin mythische Schwelle von 1.000 Euro. Wohlgemerkt pro Flasche.
Dabei hätte auch alles anders kommen können. Als sich nach dem großen Krieg 1945 das Zentrum der geopolitischen Macht nach Amerika verlagerte, wanderte auch das Zentrum der Wissenschaft und Kultur mit. Spätestens seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts spielte die Musik, die Literatur und vor allem die bildende Kunst an den Küsten der Vereinigten Staaten. Und die Genusswelt folgte auf dem Fuße.
Als der Mythos von der französischen Vorherrschaft beim Genuss gebrochen wurde
Aus der etwas selbstverliebten Perspektive der Europäer galt natürlich Europa weiterhin als Hort und Quell der größten Weine der Welt. Bis 1976 die berühmt gewordene „Weinjury aus Paris“ eine Probe veranstaltete, in der die besten Weine Frankreichs gegen die besten Weine aus Kalifornien antraten. Dass die Jury fast ausschließlich aus Franzosen bestand und man derart keine Voreingenommenheit unterstellen konnte, ließ das Ergebnis legendär werden: sowohl bei den Weißweinen wie auch bei den Rotweinen siegte jeweils ein Wein aus Kalifornien. Der Mythos von der französischen Vorherrschaft beim Genuss war gebrochen.
Genauso rasant vollzog sich schließlich die Übergabe der „Bundeslade der Weinkritik“ von Europa an die USA. Die europäischen Weinkritiker, die vornehmlich britisch waren und neben der Weinkritik vor allem mit Weinen handelten, hatten kein großes Interesse ausgebildet, mit ihren Beurteilungen die bestehende Hierarchie der teuersten Weine der Welt durcheinanderzubringen. Zu gut ließ sich mit verstaubten Qualitätskriterien und großen Weinnamen Geld verdienen. Bis schließlich ein amerikanischer Cowboy die Bühne betrat. Sein Name: Robert Parker.
Es ist das wohl größte Verdienst Robert Parkers, dem Rechtsanwalt aus Baltimore, nicht nach Mythos, Preis oder Tradition die Weine beurteilt zu haben, sondern ausschließlich nach dem, was er im Glas vorfand. Und das war gerade in den kühlen 70er Jahren oftmals unreif und unsauber ausgebaut. Mit der den Amerikanern gerne nachgesagten Hemdsärmeligkeit wirbelte Robert Parker vor allem bei den Bordeaux-Weinen die althergebrachten Hierarchien durcheinander. Da er nicht mit Weinen handelte, sondern sich als Anwalt der Weinkäufer verstand, musste er keine Rücksicht auf merkantile Interessen oder befreundete Netzwerke nehmen.
Die kopernikanische Wende beim Wein
Es war so etwas wie die kopernikanische Wende beim Wein. Auf einmal stand der Konsument und Weinkäufer im Mittelpunkt und nicht mehr eine eingeschworene Gemeinschaft aus Händlern, Kritikern und Erzeugern, die sich gegenseitig die Meriten zuwarfen. Mit der damals starken Kaufkraft des US-Marktes im Rücken avancierte Parker schnell zum einzigen weltweit anerkannten und damit einflußreichsten Weinkritiker auf diesem Erdenrund. Sein Urteil ließ Weinpreise nach oben schnellen und andere abstürzen. Inzwischen findet man selbst im Supermarkt oder Discounter Weine, auf denen die von Parker gegebene Punktzahl als Verkaufsargument prangt.
Europa wehrte sich, wie sich Europa oftmals wehrt: es saß auf dem Sofa und nahm übel. Viel zu groß sei der Einfluss des Amerikaners; er bevorzuge Weine, die dem von Süßigkeiten geprägten Gaumen seiner Landsleute schmeichelten; er habe Netzwerke aufgebaut, die ausschließlich daran werkelten, Weine zu produzieren, die diesem Geschmacksbild entsprächen. Kurzum: Robert Parker sei der Sargnagel der ernsthaften europäischen Weinkultur zugunsten einfach gestrickter Trinkmarmelade und bombastischer Alkoholwerte. Derweil die einen zeterten, investierten die Weingüter in neue Keller, professionelle Berater und saubere Technik. Und siehe: seit den 90er Jahren verbesserte sich die Weinqualität stetig und heute gelten Reife und sauberer Ausbau selbst bei Supermarkt-Weinen als Standard.
Nach den Amerikanern betraten die Japaner die Bühne der Luxusweine, dann die Russen, die Brasilianer und die Inder. Alle hörten sie auf Robert Parker, was die Preise für die auf natürliche Art begrenzte Zahl der Luxusweine in die Höhe schnellen ließ. Und dann kam China. Das aufstrebende Riesenreich mit dem ungeheuren Menschenpotential ging, nachdem die ersten kapitalistischen Erfolge Früchte getragen hatten, auf Einkaufstour. Und auf einmal gierte die ernsthafte europäische Weinkultur nach nichts anderem, als mit dem Riesenreich in Geschäftsbeziehung zu treten. Wenn irgendwo Wachstumsraten und Preissteigerungen zu erzielen waren, dann nur durch die Nachfrage der Chinesen. Wenn irgendwo noch europäisches Wein-Know-How gefragt war, dann in China. Und man mutmaßt, dass China bald schon das größte Weinanbauland der Erde sein und die kleine „Alte Welt“ abgelöst haben wird.
China könnte bald die größte Weinbau-Nation der Welt sein
Und da auch die Genusswelt wie in einem Brennglas die geopolitischen Bewegungen nachzeichnet, ist inzwischen auch die Bundeslade der Weinkritik nach Südostasien gewandert. Ende 2012 verkaufte Robert Parker seine Zeitschrift „Wine-Advocate“, mit der er drei Jahrzehnte die Weinwelt durcheinandergewirbelt hatte, an drei junge Investoren, die in der IT- und Finanzbranche ihr Geld gemacht hatten. Sie kommen aus Singapur und inzwischen sind auch chinesische, thailändische und andere asiatische Weine fester Bestandteil des Wine-Advocate. Der europäische Konsument währenddessen übt sich in Bräsigkeit: der Chines, so lautet das gängige Vorurteil, hat ja keine wirkliche Beziehung zum Wein und kaufe nur, was teuer ist, um Eindruck zu schinden. Außerdem, und das ist das Todesurteil unter Genießern, schütten die in China noch Zucker in den Wein.
Als ein chinesischer Sommelier auf diesen Hang seiner Landsleute, Wein zu süßen, angesprochen wurde, antwortete er sinngemäß: in China werde seit 20 Jahren mit Wein gehandelt, während die westliche Welt seit 350 Jahren Tee kenne. Und noch immer schütte man im Westen Zucker in das asiatische Kulturgetränk. Man solle doch bitte den Chinesen etwas Zeit lassen. Denn, so ist anzunehmen, China wird in Kürze nicht nur der größte Weinproduzent der Welt werden, sondern auch Weine produzieren, die den europäischen Weinen in nichts nachstehen werden. Dann könnte eine neue „Weinjury aus Paris“ zu einer weiteren Stabübergabe - diesmal nach Asien - führen. Von der Kaufkraft her hat diese Übergabe schon lange stattgefunden.
In seiner neuen Kolumne "Des Teufels Küche" betrachtet Markus Vahlefeld regelmässig die sinnlichen Seiten unseres Daseins .