Markus Vahlefeld / 12.10.2016 / 12:45 / Foto: Tomaschoff / 0 / Seite ausdrucken

Des Teufels Küche (4): Von Blutsauce und lila Kühen

Es ist eine der weit verbreiteten „urban legends“, dass moderne Stadtkinder dächten, Kühe seien lila. Dieser Erkenntnisschock beruht in Wahrheit auf einem Malspiel, das Mitte der 90er Jahre an bayrischen Kindergärten ausprobiert wurde. Die Kinder erhielten die Silhouette einer Kuh und sollten sie ausmalen. Ein Drittel wählte die Farbe lila und die Legende war geboren: Kinder wüssten nicht mehr, wie Kühe in der Natur aussehen. Dass einfach Kinderlust und Malspaß an der Farbe lila - natürlich auch in Kombination mit der bekannten Schokoladenmarke - zu dem Ergebnis geführt haben mag, wurde geflissentlich ignoriert.

Früher war alles besser - diese Einstellung ist merkwürdigerweise bei den progressiv-grünen Kräften der Gesellschaft genauso vertreten wie bei den Kulturkonservativen. Der moderne Mensch habe sich von seinem Ursprung entfernt, was vor allem bei der Nahrung augenfällig wird. Wir gehen in den Supermarkt und kaufen in Plastikfolie eingeschweißtes Fleisch oder Fertiggerichte, die mehr an Weltraumnahrung erinnern als an Kochkunst. Entfremdetes Essen ist das Resultat.

Dabei ist Entfremdung einer der Grundpfeiler jeder modernen Gesellschaft und, um mit Klaus Wowereit zu sprechen, das ist auch gut so. Wir fahren Auto, ohne zu wissen, wie der Einspritzmotor funktioniert oder schalten den Computer an, ohne auch nur das geringste Wissen über Bits und Bytes zu haben. Arbeitsteilung regiert unseren Alltag. Dass niemand mehr für sich selbst arbeitet, sondern nur noch für andere, ist eine der großen Errungenschaften der Zivilisation und hat technischen Fortschritt erst möglich gemacht. Warum sollte das beim Essen anders sein?

Auch in der hochbesternten Luxusküche wurde die Kuh auf einmal lila

Zur gleichen Zeit, als die Legende der lila Kuh geboren wurde, griff auch die Hochküche das entfremdete Essen auf und erfand, was man unter dem Schlagwort „Laborküche“ oder „Molekularküche“ zusammenfassen könnte: die totale Entfremdung vom Originalprodukt mit allerlei chemischen Hilfsmitteln aus dem Labor. Gefriertrocknungen, Injektionen, Sphärisierungen und vieles mehr, was nur unter Zuhilfenahme von Chemielabor und Medizintechnik möglich war, kam mit dem spanisch-katalanischen Koch Ferran Adrià und seinem weltberühmten Restaurant elBulli groß in Mode. Es war die Abkehr von aller Essensphilosophie, die sich am Ursprungsprodukt orientierte. Um im Bild zu bleiben: auch in der hochbesternten Luxusküche wurde die Kuh auf einmal lila.

Die Kehrseite der Entfremdung kann die Geringschätzung sein. Über das Ursprungsprodukt nichts mehr zu erfahren, führt oftmals dazu, dass man den Wert nicht mehr zu schätzen weiss. Bei einem Auto oder einem Computer ist es der hohe Preis, der schmerzt und zum achtsamen Umgang förmlich zwingt. Beim Umgang mit Essen, der in Deutschland oftmals nur vom günstigen Preis bestimmt wird, setzt jedoch eine Spirale der Unachtsamkeit ein, die dazu führen kann, dass man den schmutzigen und oftmals blutigen Herstellungsprozess der Nahrung schlichtweg verdrängt. Es soll ja Menschen geben, die glauben, dass kein Tier geschlachtet wurde, wenn sie ihr Fleisch statt beim Schlachter im Supermarkt kaufen.

Die große Kunst beim Genuss ist es, achtsam zu bleiben, ohne in Betulichkeit abzurutschen. Und dafür haben uns die Götter die Sinneslust geschenkt. Diese kann deftig, prall oder zart sein, immer aber führt sie den Menschen vom ideologiebehafteten Kopf in den Reichtum der Welt. Ein wunderbares Beispiel dafür durfte ich letzte Woche in Berlin erleben. Statt in die besternte Hochgastronomie trieb es mich in ein neu eröffnetes Restaurant in Berlin-Kreuzberg, ins Tulus Lotrek in der Fichtestraße.

Dass der Name an den fanzösischen Maler erinnert, die Schreibweise jedoch bewusst eingedeutscht ist, könnte man bereits als Lust am Spielerischen deuten. Es ist aber mehr. Wäre der Name im Original geschrieben, würde die Fährte in Richtung eines klassisch französischen Restaurants gelegt. Doch das Tulus Lotrek ist weder klassisch noch französisch, der Name stattdessen vielmehr ein verballhornter Hinweis auf einen Maler, der für seine Trinkfestigkeit und Genusssucht berüchtigt war. Und darum geht es in diesem Berliner Etablissement: um den prallen, sinnlichen, manchmal auch schmutzigen Genuss.

Die rote Blutsauce landet mit wildem Pinselstrich auf dem Teller

Küchenchef Max Strohe liebt das Spiel mit widersprüchlichen Aromen und Texturen, um zwischen ihnen kreative Brücken für ein stimmiges sinnliches Erlebnis zu bauen. Jedoch sind nicht die artig nebeneinander drapierten Aromenträger Mittelpunkt der Küche, sondern die wilde Vermengung verschiedenster Teile zu einem höheren Ganzen. Und das gelingt ganz ausgezeichnet.

Fast untypisch für seine Art zu kochen, erscheint dann der wohl spektakulärste Gang seines 7-Gänge-Menüs, der mich zu dieser kleinen Eloge inspiriert hat: die Challans-Ente mit roter Beete, Wasabi und Himbeere. Hier liegen die einzelnen Aromen nebeneinander auf dem Teller und man kann selbst entscheiden, welche Wahlverwandschaft man ausprobiert. Was den Gang so spektakulär macht: die rote Blutsauce, die ähnlich einem Jackson-Pollock-Gemälde mit wildem Pinselstrich auf dem Teller landet und derart eine Reminiszenz an die Herkunft des Fleisches liefert: hier hat ein Tier für uns sein Leben gelassen und wir ehren es, indem wir nicht vergessen, dass dies ein blutiger Prozess war. Das ist natürlich so gekonnt und unpädagogisch gemacht, dass man sich genauso frei fühlt, einfach die wilde Schönheit dieses Arrangements zu bewundern.

Hier wird nichts verdrängt, nichts - wie in der Hochküche oft üblich - so entfremdet und sublimiert, dass man fast schon wieder meint Weltraumnahrung zu essen, sondern hier wird derbe und doch ungemein kunstvoll aufgetischt. Nicht zu verschweigen ist dabei auch die Leistung der Hausherrin Ilona Scholl, die es mit ihrer herzlichen und vorlauten Art sofort schafft, Nähe herzustellen und Berührungsängste zu nehmen, ohne dass man gleich geduzt würde. Dem Spieltrieb in der Küche entspricht das Spielerische im Service aufs Vorzüglichste, so dass das Tulus Lotrek ein „casual prall dining“-Erlebnis vermittelt, das die Sinne genauso anspricht wie das Herz und durchaus einem Idealbild von Genuss zu entsprechen schafft.

Natürlich verfremdet jede Kochkunst das Ursprungsprodukt, sonst bekäme man ja einen Lappen rohen Fleisches oder hartes Gemüse auf den Teller. Dass jedoch Kühe lila sein könnten, darauf würde man im Tulus Lotrek ganz sicher nicht kommen. Und auch das ist gut so.

Tulus Lotrek, Fichtestr. 24, 10967 Berlin.

In seiner neuen Kolumne "Des Teufels Küche" betrachtet Markus Vahlefeld regelmässig die sinnlichen Seiten unseres Daseins .

Foto: Tomaschoff

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