Gerd Held / 26.12.2014 / 10:00 / 0 / Seite ausdrucken

Der Weihnachtsapfel (Teil II)

Die ersten Orangen kamen in Körben an Deck von Segelschaluppen über Mallorca nach Frankreich. Dieser kleine, tastende Süd-Nord-Verkehr wuchs bis 1856 auf 100000 Doppelzentner. 30 Jahre später war schon die Million erreicht und England hatte die Position Frankreichs übernommen. Die Segler wurden durch Dampfer ersetzt, und zwar zunächst durch Kohledampfer (tramps), die bei der Rückfahrt auf der Suche nach Ladung waren. Es folgten spezialisierte Kompanien wie die von Mr. McAndrews, nebenbei Gründer des ersten Tennisclubs von Valencia. Eine neue Form der Finanzierung setzte sich durch, die englischen Importeure kauften die Ernte auf Vorschuss. Mit diesem System verbreitete sich die Orange in Europa. 1913 betrug der Export schon 5,5 Millionen Doppelzentner. Neben England (42%) und Frankreich (22%) wurde Deutschland (21%) zum Hauptabnehmer. Die Statistik verzeichnete allein von 1898 auf 1899 eine Steigerung um 500%, das wird der Durchbruch des Weihnachtsapfels auf den deutschen Gabentischen gewesen sein. Auf dem Hamburger „Fruchthof“ wurden auch die „russischen Orangen“ konfektioniert – nur die erlesendsten Früchte durften die lange Reise nach St. Petersburg antreten. Solange der größte Teil der Transporte über den Seeweg ging – 1950 waren es noch 68% -,  dominierten die Handelsmarinen des Nordens. Dann wurde aus der Seefrucht eine Landfrucht. Schiene und Straße übernahmen den Transport. Inzwischen bestimmen die Spediteure und Trucker aus Valencia, Castellon und Alicante diesen Teil des Geschäfts.

Die kostbaren Früchte mussten nicht nur schnell in den Norden gelangen, sondern auch unzerquetscht. Eine wichtige Erfindung hatte daran einen entscheidenden Anteil: die Apfelsinenkiste. Sie war das Möbel, das größere Stapelhöhen und damit überhaupt Massentransporte ermöglichte – eine Vorform des Containers sozusagen. Während im Norden der Großhandel in der neuen Einheit rechnete, entstand in den Valencianer Dörfern ein neuer Beruf: Der „Fuster“ musste die Kisten vernageln und dabei aufpassen, dass er die Goldäpfel nicht mit vernagelte. Der Fuster gehörte zu einer ganzen Industrie, die sich am Südende der Orangenlinie bildete. An den Häfen und an den Bahnstrecken entstanden Hallen, in denen Arbeiterinnen die Früchte nach Größe, Reifegrad und Beschädigungen auslasen. Eine zweite Gruppe wickelte sie in Seidenpapier, und eine „Tiradora“ (Werferin) beförderte sie zu den Packerinnen, die sie nach einem festgelegten Muster in der Kiste vwerstauten, damit sie werden zerdrückt wurden noch sich bewegen konnten. Der Fuster machte den Deckel drauf und dann kam noch der Aufkleber auf die Kiste.

Der Orangenexport schaffte Arbeit und eine lokale Unternehmerschicht, die Schritt für Schritt ihren Anteil am Marktprozess ausdehnte. Anfangs war die Abhängigkeit vom Norden noch groß, aber „mercader“ und „exportador“ wurden in Valencia schon früh zu magischen Vokabeln. Das fremde Englisch („orange“) und das einheimische Valenciano („taronja“) vermischten sich zu einem Slang. An den Verladestationen ging es hoch her. Jeder wollte seine Kisten als erster im knappen Laderaum unterbringen. Über die Frechheit der Schiebereien lachte das ganze Land – oder ärgerte sich schwarz: Ein paar Mal schickte man vorschnell so grüne Früchte los, dass deren bitterer Nachgeschmack in Liverpool wochenlang die Preise verdarb.

Um die Jahrhundertwende erlebte die Stadt Valencia die „Orangeneuphorie“. 80% des europäischen Verbrauchs konzentrierten sich auf 100000 Hektar Anbaufläche in einer einzigen mediterranen Küstenebene. In gut hundert Jahren hatte sich ein satter immergrüner Teppich über das Land gelegt. Der Franzose Duvillier schwärmte vom abendlichen Duft der blühenden Bäume, der über „unglaubliche Entfernungen“ spürbar sei. Stadt und Land lebten im Rhythmus der Ernten. Der Südfruchtexport hatte eine stärkere und zugleich distanziertere regionale Identität geschaffen. Die Valencianer sahen ihre „sonnenüberfluteten“ Früchte mit den Augen des Nordens. Dieser Blick vom Standpunkt der Exportmärkte prägte die Architektur, Malerei und Literatur. Um 1900 entwarf der Maler Joaquin Sorolla ein Plakat, das die Orange mit französischer Revolutionssysmbolik verband. Die Frucht repräsentierte nicht alte Bodenständigkeit, sondern Wohlstand, Freiheit und Fortschritt. Die Dekorationen von Markthallen, Bahnhöfen und Bankgebäuden aus den zwanziger Jahren mischten Folklore und Art Déco. Die Natürlichkeit der Früchte wurde aus der Distanz der Exportware gesehen und das verlieh ihnen eine zusätzliche Qualität. Hinter den Darstellungen der Frauen in ländlicher Tracht konnte man schon die Konfektionsarbeiterin ahnen. Der Schriftsteller Blasco Ibanez inszeniert in seinem Roman „Zwischen Orangenbäumen“ in den Feldern von Alzira feuchtwarme Spätnachmittage zwischen Rafael und Leonora. Ins Lichterspiel und den betäubenden Duft mischt sich das Rumpeln der Bewässerungsmotoren…

Die heutigen Kapitalismus-Kritiker tun oft so, als sei eine ganze Welt von natürlichen und nützlichen Dingen immer schon da – und der Weltmarkt bemächtige sich dieses Reichtums nur. Die späte Erfolgsgeschichte der Orange sollte da nachdenklich machen. Bei der Orange fällt der Gebrauchswert nicht einfach aus dem Baum in unseren Schoss. Erst das komplizierte Handelsgeflecht zwischen Süd und Nord macht die Orange schmackhaft. Ohne diese moderne Brücke wäre die frische Orange ein Unding und nur als exotische Beigabe bekannt. „Modern“ bedeutet hier nicht weniger Natur, sondern mehr. Erst als Ware bekommt die Orange Frische und Strahlkraft. Der internationale Handel bringt sie als Weihnachtsapfel in die dunkle Welt des winterlichen Nordens.

Hier schreibt der Weltmarkt eine eigene Weihnachtsgeschichte - die Wege des Herren sind eben manchmal erstaunlich. Ja, der moderne Kapitalismus hat bisweilen mehr mit der Göttlichkeit der Schöpfung zu tun als jene Kirchenoberen, die zum Fest wieder heftig gegen die kaltherzige Macht von Markt und Geld predigen werden. 

Die Orange steht heute nicht mehr so stark im Mittelpunkt wie früher. Andere Südfrüchte sind hinzugekommen und noch etwas hat sich geändert: Zum Verzehr der Frucht hat sich das Trinken des Fruchtsafts gesellt. Das hat den Transport, in Form von Saftkonzentrat, sehr erleichtert und eine noch größere Nord-Süd-Linie ermöglicht. 2006 betrug der Saftexport mehr als das Dreifache des Fruchtexports, Schwellenländer wie Brasilien spielen eine große Rolle. Der Genuss der Orange wird so erleichtert und „kalifornisiert“. Und doch ist es ist immer noch die gleiche Helligkeit und Wärme des Südens, die da in unsere nördlichen Breiten kommt. Nur steht der herbe Reiz der Frucht mit ihrer Schale und ihren Scheiben nicht mehr so anschaulich vor uns.

So ist die Magie der klassischen Südfrucht heute nicht mehr so stark. Umso mehr sollte man ihr von Zeit zu Zeit bewusst huldigen und die Orangen in natura auf den Tisch bringen – und damit auch ein Stück Weihnachtsbotschaft.

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