„Der wählt bestimmt AfD“, sage ich zu Sabine und deute auf das Wohnmobil, das im Stau vor uns steht.
Sabine: „Wie kommst Du darauf?“.
„Ja schau mal auf das Kennzeichen. BIW. Bischofswerda. Das ist im tiefen Sachsen. Dunkeldeutschland.“
Sabine: „Der wählt trotzdem keine AfD. Die wird doch nur von Abgehängten gewählt. Und der da ist nicht abgehängt. Der fährt ein Wohnmobil für 100.000 Euro.“
Wir stehen im Stau am Brenner und nähern uns im Stop and Go-Verkehr der Brenner-Mautstelle. Ich habe meiner Frau ein Wochenende am Gardasee zum Geburtstag geschenkt. So mit Wellness und allem Pipapo. Auf die Idee sind offenbar auch andere gekommen. Jedenfalls werden wir einen großen Teil des Weekends im Brenner-Stau verbringen. Tausende von Fahrzeugen quetschen sich über die Fahrspuren, rauf wie runter, auch auf der Gegenseite steht es.
Ehrlich gesagt, finde ich das gar nicht so schlecht. Jedenfalls besser als so eine Wellnesshölle mit Gesichtsmasken. Der Stau macht alle gleich, auch diesen Wutbürger mit seinem 100.000 Euro-Mobil. Außerdem ist der Stau einer der letzten Orte für Kontemplation, Selbstreflektion und höhere Einsichten, besonders natürlich auf dem Brennerpass. Tablet und Smartphone sind ausgeschaltet, denn weiß der Geier wie hoch die Gebühren sind.
„Den Vergleich behältst Du besser für Dich“
Langsam schiebe ich mich an dem Wohnmobil vorbei, um den Dunkeldeutschen in Augenschein zu nehmen. „Siehste“, sagt Sabine, „der sieht gar nicht wie ein Wutbürger aus.“ In der Tat sitzt da ein relativ sportlicher Enddreissiger am Steuer, die Mountainbikes am Heck deuten auch nicht gerade auf einen hin, der sich benachteiligt und zurückgesetzt fühlt.
Wir haben ja Zeit und ich beschließe, ein wenig rechthaberisch zu sein. „Auf Äußerlichkeiten kann man da gar nichts geben, der Wutbürger ist inzwischen gut getarnt, er ist gewissermaßen überall“, erkläre ich meiner Frau: „Man kann ihn beinahe in jeder Form antreffen, als Polizist, als Krankenschwester, als Sozialarbeiter, als Studienrat oder höheren Finanzbeamten, als Nachbar mit gehobenem Reihenhaus und Vollstudium.“
„Aha“, sagt Sie, „Du meinst wie bei dem Film ‚Men in Black’.“ In dem Streifen wimmelt es nur so von Alliens, die hinter einer bürgerlicher Fassade versteckt sind. Agent J. arbeitet an der Seite von Agent K. Zusammen müssen sie ein illegal auf der Erde gelandetes Rieseninsekt, eine extrem bösartige Schabe, zur Strecke bringen.
Ich: „Den Vergleich behältst Du besser für Dich.“
Sabine: „Sag das mal Deinen Kollegen in Funk und Fernsehen, mir kam die Berichterstattung in den letzten Wochen genauso vor.“
Ich: „Vielleicht ist es auch ein Naturfuzzi und er wählt die Grünen.“
Sabine: „Nein, tut er nicht, Dieselfahrer.“
Ich: „Wutbürger sind trotzdem reichlich unterwegs.“
Sabine: „Zeig mir einen.“
Ich deute auf diverse ausländische Kennzeichen. Italiener, Österreicher, Franzosen, Holländer.
"Wie meinst Du das?"
„Lega Nord, Beppo Grilllo, Strache, Hofer, Le Pen, Haider, Wilders.“
„Ach so.“
Keiner kommt durch
Nach zwei Stunden sind wir endlich an der Mautstelle. Kein Mensch kann den Brenner überqueren, ohne zu bezahlen, weder in die eine noch in die andere Richtung. „Ich kann diesen Bullshit nicht mehr hören, von wegen, wollt ihr etwa wieder die Staus an der Grenze zurück?“, maule ich rüber zu Sabine. Der Stau war schließlich nie weg. Aber Kassenhäuschen zählen offenbar nicht als Grenzbefestigung. Jedenfalls kommt keiner durch, wenn der Finanzminister es so will. Sabine wird allmählich unleidlich, die erste Wellness-Behandlung geht mit Sicherheit flöten. Ich sage zu Ihr: „Wirf Deinen Pass weg, dann geht’s vielleicht schneller.“
Sie: „Nein, nicht schon wieder dieses Thema, Du nervst nur noch.“
Ich habe die Maut im voraus bezahlt und darf auf die Telespur wechseln. Eine Kamera erkennt das Fahrzeugkennzeichen und der Schlagbaum geht automatisch hoch. Sabine findet das prima. „Sag mal, meinst Du nicht, so eine Kamera könnte auch ein Terroristen-Gesicht erkennen?“ Ich: „Jetzt fängst Du wieder damit an.“
Wir schweigen eine Weile und kommen an der letzten Tankstelle vor der italienischen Grenze vorbei. Teuer und schlecht, aber völlig überfüllt. „Warum stellen die sich da alle dazu? Das ist doch wirklich selten dämlich“, erläutert mir meine Frau. Antwort: „Die sind das so gewohnt, die machen das jedes Jahr so. Teuer, schlecht, aber es könnte woanders noch schlechter sein.“ Daraufhin Sabine messerscharf: „Du meinst, das ist wie Merkel wählen?“
In einem sind wir uns aber einig. Bei der Spezies, die hier zu Hundertausenden gen Süden staut, um dort den kühlen Herbst zu verkürzen, handelt es sich in jedem Fall um Briefwähler. Heimlich haben Sie zuhause eine Partei angekreuzt, dabei womöglich diabolisch gegrinst und den Umschlag in den nächsten Briefkasten befördert. Und danach: Nix wie weg.
Ich fände es ja gar nicht schlecht, wenn die Herrschaften einen Anhänger mit Brieftauben mitführen müssten, um die Sache ein wenig romantischer zu gestalten. Stellen Sie sich mal diese schönen Fernsehbilder vor, wenn die ersten Täubchen aus Tirol eintreffen, und der Wahlleiter den Fußring mit den Kreuzchen abnimmt.
Aber nix da mit Taubentransport. Statt dessen transportieren die Wohnmobile zusätzliche Transportmittel. Fahrräder sind obligatorisch, Fahrräder in Verbindung mit einem Motorroller ebenfalls sehr verbreitet. Fortgeschrittene führen auf einem Anhänger ein Motorboot, wahlweise einen Smart-Kleinwagen mit. Nur Smart auf Motorbarkasse habe ich nicht gesehen.
Haben Sie in München geputscht?
Jenseits der italienischen Grenze mache ich das Radio an. Ich liebe italienische Radioansagen. Ich verstehe zwar kein Wort, wiederhole aber immer wieder für mich völlig sinnfreie Passagen, um mich besser zu integrieren. Zufällig zappe ich dann auf einen deutschsprachigen Sender. Nach einer Minute werden wir immer aufmerksamer. Der Sprecher berichtet davon, dass es herbe Kritik am Papst gibt, weil er einen Schmusekurs mit sozialistischen südamerikanischen Diktatoren, etwa in Venezuela fährt. Hab ich zuhause noch nie gehört. Seit wann geht sowas bei uns über den Äther?
Sabine schaut mich an. Ich schaue Sabine an. Was um Himmels willen ist das? Haben Sie in München geputscht und den Intendant des BR in Geiselhaft genommen? Das kann kein deutscher Sender sein. Ist es auch nicht, sondern ein katholischer Sender aus Südtirol, der deutschsprachig berichtet. Das Radio fängt an zu krächzen, aber wir hören noch den Anfang einer Reportage über den „Marsch fürs Leben“, den Abtreibungsgegner in Berlin veranstalten. Die Organisatorin wird befragt, darf doch glatt ausreden. Na die trauen sich was beim Radio in Südtirol. Sabine meint, wir sollten uns endlich so einen Internet-Radio-Empfänger besorgen, da gibts sowas auch bei uns frei Haus.
Im Hotel haben wir wegen der Verspätung das Abendessen verpasst. Am nächsten Morgen treffen sich die Gäste im Frühstücksraum. Italiener, Franzosen, Österreicher, Holländer, Deutsche. Ich habe eine Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung ergattert. Lese Sabine genüsslich, aber leise die eine oder andere Passage vor. Sie hasst das. Ein leichter Disput ergibt sich. Und mir rutscht relativ laut und ein bisschen scharf ein Name heraus: „Merkel“.
M-E-R-K-E-L. Dies war der Moment, in dem der Kosmos innehielt. Das Klappern der Frühstücksbestecke hörte auf. Erstarrung am Buffet. Selbst die funktionelle Hintergrundmusik im Raum schien auszusetzen. Ein Herr blickte mich über den Rand seiner Designerbrille an. Eine Dame ließ vom Bio-Morzarella ab. Sabine trat mir mit voller Wucht unter dem Tisch gegen das Schienbein und zischte: „Bist Du bekloppt? Doch nicht hier!“ Das Leben ist dann doch ziemlich komisch. Jedenfalls kam mir die Idee zu einem kurzen Sketch: „Don’t mention Angela“.