Hemmi und Valdi heißt eine Kneipe auf der Laugavegur, der Ausgehmeile von Reykjavik. Nach meinem Besuch habe ich heftige Schlagseite, obwohl gar kein Wind weht. Ich muss das Lokal um drei Uhr nachts aus zwei Gründen verlassen. Erstens: Der Besitzer will ins Bett. Zweitens: Ich bin nicht mehr fähig, ebenso betrunkene Isländer zu verstehen. Zwei Dinge können Sie mir aber noch klarmachen: Isländische Mädchen sind die schönsten auf der Welt und die Nationalmannschaft wird Fußball-Weltmeister.
Die meisten Isländer trinken gerne mal einen. Und deshalb hat der Isländer auch Verständnis dafür, dass andere gerne mal einen trinken. Weshalb man erstaunlich rücksichtsvoll miteinander umgeht, wenn der eine was getrunken hat und der andere nicht. Man kann sich in Reykjavik schnell blamieren, beispielsweise indem man Halldór Laxness, den isländischen Literatur-Nobelpreisträger nicht kennt. Auf allen Vieren nachhause robben geht aber vollkommen in Ordnung, das ist gelebte Integration. Besonders in so aufregenden Zeiten.
Vor zwei Wochen qualifizierten sich die Isländer für die Fußballweltmeisterschaft. Vorige Woche stellte die isländische Frauenfußball-Nationalmannschaft ihre deutschen Kolleginnen mit 3:2 in den Senkel. Und vorgestern legten die Isländer einen Airbus von Air-Berlin in Reykjavik an die Leine, weil die Deutschen glaubten, ihre Landegebühren nicht bezahlen zu müssen. Sagen wir es mal so: Die Isländer sehen das Leben sehr sportlich. Während ganz Deutschland sich hilflos darüber aufregt, dass sich der Air-Berlin-Vorstand a priori mit 4,5 Millionen aus der Konkursmasse bediente, erwacht im Isländer der Walfänger. Und schon hat er einen Airbus an der Harpune.
Nachfahren subversiver Systemgegner
Aldous Huxley beschreibt in „Brave New World“ eine utopische Gesellschaft. Wer das Bedürfnis zum kritischen Denken nicht ablegte und die schöne neue Welt anzweifelte, musste mit der Verbannung auf eine ferne Insel namens „Iceland“ rechnen. Die heutigen Isländer sind folglich Nachfahren subversiver Systemgegner, was eigentlich alles erklärt.
Mit 330 000 Einwohnern müssten die Nordmänner sich eigentlich als verfolgte Minderheit walfleischverzehrender Hochsee-Eskimos aufspielen, schließlich entsprechen alle Isländer zusammen genommen weniger als 0,005 Prozent der Bevölkerung der EU. Sie denken aber gar nicht daran. Sie denken auch nicht daran, sich vom großen Bruder eingemeinden zu lassen. Als die EU nach der isländischen Finanzkrise meinte, dem Beitrittskandidaten die Leviten lesen zu können, sagten sie per Volksabstimmung kurz und schmerzlos Tschüss. Geschadet hat ihnen das nichts. Im Gegenteil.
Auf den Finanzseiten der Zeitungen las man im Frühjahr eine kleine Meldung, hinter der eine große Geschichte steht: "Island hebt Kapitalkontrollen auf". Fast zehn Jahre nach der Finanzkrise, darf die isländische Krone wieder frei gehandelt werden. Und das erzählt eben nicht nur etwas über Island, sondern auch über Griechenland und die EU. Während die Isländer es geschafft haben, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, stecken die Griechen immer tiefer drin. Und das ist nicht nur ihre eigene Schuld. Man kann angesichts des Beispiels Island von zehn verlorenen Jahren für Griechenland sprechen.
Die Isländische Währung ist wieder auf einem Stand wie 2008, Investitionen und ein boomender Tourismus machten es möglich. Aber auch die Entschlossenheit und der Glaube an die Zukunft, der diese kleine Nation auszeichnet. „Es ist gut für uns, keine Nachbarn zu haben. Aber für den Rest der Welt ist es ein Glück“, sagen die Isländer.
Isländer mit entarteten Sitten
Und so haben sie es schon immer gehalten. So begab sich Eva Braun, Führerfreundin und Hobbyfilmerin, 1939 auf eine Seereise ins erhoffte „Land der Arier“. Geschenkt hatte ihr die Reise Adolf himself. Statt germanischen Helden und gebärfreudigen Arierinnen traten den Nordlandreisenden freilich Isländer mit entarteten Sitten entgegen. Sie tranken Coca-Cola und kauten Kaugummi, auch waren bei weitem nicht alle blond und blauäugig, sondern viele hatten im Gegenteil dunkle Haare und braune Augen. Ein Schiff voll deutscher Germano-Touristen wurde im Hafen von Reykjavik sogar von Kommunisten empfangen, die Plakate hochhielten, auf denen sie den großen Führer des deutschen Volkes und seine Anhänger schwerstens beleidigten. Große Führer sollten Island im Zweifelsfall meiden, besonders Air-Berlin-Vorstand Thomas Winkelmann.
Von Island aus weht immer mal wieder eine Revolution in die weite Welt hinaus. Die Insulaner sind beispielsweise stolz darauf, einen entscheidenden Beitrag zur französischen Revolution geleistet zu haben. Nach dem Ausdruck des Vulkans Laki, der vom Juni 1783 bis in das Jahr 1785 tobte, starb ein Fünftel der isländischen Bevölkerung von damals 50.000 Menschen an der Katastrophe. Drei Viertel des Viehbestandes gingen zugrunde, es kam infolge des Klimawandels jahrelang zu Missernten in Island und Europa und damit auch zu politischen Umwälzungen wie der Revolution in Frankreich.
Isländischer Nationalismus richtet sich nach innen und kennt keine Feinde, die erobert, besiegt, niedergemacht werden müssen. Der einzige Feind ist die Natur, es sind die Vulkane, Gletscher, das Meer und die langen dunklen Winter. Die Menschen sind den Kampf gegen Naturgewalten gewohnt. Sie sind gewohnt für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Wenn ein Vulkan ausbricht – und das kann jederzeit passieren – hilft weder Mutti Merkel noch die Künstler-Sozialversicherung.
Auf dem Vulkan keine Sorge um die Heizung
Das Leben auf einem Vulkan hat aber auch seine Vorteile. Abgesehen davon, dass man morgen tot sein könnte, braucht man sich um die Heizung keine Sorgen zu machen. "There is no free lunch" sagt man dazu im Angelsächsischen.
Erdwärme dampft und zischt allenthalben aus Geysiren und Erdspalten und bildet das Rückgrat der isländischen Energieversorgung. Hinzu kommt die Wasserkraft aus Stauseen. Insgesamt bezieht Island 80 Prozent seiner Energie aus erneuerbaren Quellen, das ist einsamer Weltrekord (gefolgt von Neuseeland). Island ist das Land ohne Heizungs-Kamine. Die Isländer sind auch ein sehr umweltbewusstes Volk. Aber auf ihre Art: Unsentimental, einerseits dem technischen Fortschritt zugetan, andererseits Ideologien gegenüber skeptisch.
Sie lieben beispielsweise große Geländewagen. Und damit fahren sie gerne in die Natur, rollen möglichst nah an einen Aussichtpunkt heran und genießen die Landschaft. Wobei sie leicht von Ausländern zu unterscheiden sind: Touristen steigen aus und bewegen sich zu Fuß. Isländer tun so was nicht. „Nur verrückte Ausländer gehen ‚hinaus’ in die isländische Natur“, meint der Schriftsteller Hallgrímur Helgason, „wenn Isländer solche Menschen unterwegs mit ihren Geländewagen überholen, versuchen sie immer, sorgfältig durch eine Pfütze zu fahren und sie von oben bis unten voll zu spritzen“.
„Niemand verbietet Dir hier irgendwo hinzugehen, selbst an der steilsten Klippe wirst Du keine Absperrung oder gar ein Warnschild finden“, sagt Haraldur Sigurdsson Islands bekanntester Vulkanologe und er fügt hinzu: „Hier herrschen oft 50 Meter pro Sekunde Windgeschwindigkeit, da wirst Du mit dem Auto einfach von der Straße geweht“. Als Kind musste er sich im Sturm an Zäunen entlang hangeln, um zur Schule zu gelangen. So stark blies der Wind, dass er die letzten Meter zum Schulgebäude über den Boden kriechen musste, „weil der Zaun da aufhörte“. Wer so aufwächst, hat automatisch eine andere Einstellung zu Lebensrisiken.
"Kling, kling, kling, wie zerbrechendes Glas"
Isländer seien es deshalb gewohnt, sich selbst rückzuversichern: „Du musst immer den schlimmsten Fall einkalkulieren, Du musst das Wetter checken, Du musst die Straßenverhältnisse checken, Du musst die Temperatur fühlen, bevor Du in eine heiße Quelle hüpfst.“ Die Bauern in der Nachbarschaft der über 30 aktiven Vulkane beobachten deshalb im Internet die seismische Lage um sich herum. „Island hat das beste Beobachtungs- und Informationssystem der Welt und jedermann kann es live im Internet nutzen, die Bauern haben in Echtzeit die gleichen Informationen wie wir Wissenschaftler“, erläutert er, „auf einigen Vulkanen stehen sogar Webcams“.
Es werden ja gerne Parallelen zwischen Vulkanausbrüchen und gesellschaftlichen Revolutionen gezogen. Wenn die inneren Widersprüche erst einmal zum Ausbruch kommen, gibt es kein Entrinnen mehr, nicht vor den Lavamassen und nicht vor dem Gang der Geschichte, heißt es. Aber bis dahin kann es sehr, sehr lange dauern. Dennoch hier ein paar sachdienliche Hinweise aus erster Hand, man kann ja nie wissen:
„Elefanten können es hören, Menschen nicht“, beschreibt Haraldur Sigurdsson jene gespenstischen Momente, bevor ein Vulkan ausbricht. Der Hörbereich des Menschen beginnt bei 20 Hertz, das Infraschall-Geräusch entzieht sich mit nur 15 Hertz dem menschlichen Gehör, nicht aber unserer Wahrnehmung. „Du spürst etwas tief in Deiner Brust“, erzählt Sigurdsson.
Er hat das nicht in seiner Heimat sondern auf der indonesischen Insel Java bei einem Ausbruch erlebt. Nach der Infraschallphase, so erinnert er sich, wird die Geräuschkulisse dann sehr militärisch: „Pfeifen und Heulen, also die Windgeräusche fliegender Gesteinsbrocken.“ Die Lava, die den Berg hinunterfließt gibt ebenfalls Töne von sich: „Das macht ‚Kling, kling, kling’, wie zerbrechendes Glas“.