Dirk Maxeiner / 09.04.2017 / 06:25 / Foto: Dibyendu Ash / 0 / Seite ausdrucken

Der Sonntagsfahrer: Kater auf St.Pauli

Als Angehöriger des journalistischen Berufsstandes konnte man, bevor Berlin Hauptstadt wurde, nur schwer vermeiden, zumindest eine Zeit lang zum Bürger der Medienmetropole Hamburg zu werden. Ich arbeitete damals bei einer großen Hamburger Illustrierten, Sie ahnen es welche, aber ich bereue nichts. Zumindest fast nichts. Die Redaktion residierte damals an der Außenalster. Wegen seiner charakteristischen Betonform wurde der Bau im Volksmund recht treffend als „Affenfelsen“ bezeichnet.

Inzwischen ist der betreffende Medienzoo weitergezogen und ließ sich in einem stählernen Gebäude direkt am Hafen nieder, das entfernt an einen Dampfer erinnert. Die Gegend ist heute richtig schick. Eine Anzahl feiner Restaurants und Geschäfte kontrastiert aufs heftigste mit dem nicht ganz so erlesenen Publikum des Fischmarktes. In der Blütezeit meines eigenen Wirkens ragten am Hafen noch die illegal besetzten Ruinen der berüchtigten „Hafenstraße“ empor und nebendran duckte sich ein geheimnisvolles Etablissement namens Amphore. In dieser Zeit spielt auch mein schönstes Hamburgerlebnis, oder sagen wir besser: mein unvergesslichstes. Ich werde mich wohl noch lange daran erinnern, wobei ich mich an das meiste nicht wirklich erinnern kann. Aber damit sind wir schon mitten in der Geschichte.

St.Pauli, Altona und ihre an das nasse Industrierevier grenzenden Straßenzüge galten viele Jahre lang als preiswerte Adressen, weshalb ich hier während des aufstrebenden Teils meiner Journalistenkarriere Wohnung nahm. Mein Revier kannte ich damals mit verbundenen Augen, weil man es hören, riechen und schmecken kann. Hamburgs wahrer Schatz ist der Hafen mit seinem speziellen Geruch von Fernweh und fremden Ländern. Das Meer atmet vom Elbstrom durch die Fleete bis in die stille Alster und ihre Kanäle hinein. Hamburg, 110 Kilometer von der Nordsee entfernt, hat eine offene Verbindung zum Ozean, die Ebbe saugt die Hafenbecken und Fleete aus, die Flut lässt das Wasser an den Ziegelmauern der Kais und Lagerhäuser hochschwappen. In dieser den Gezeiten ausgelieferten Welt kann sich Biedersinn nur schwer festsetzen, die in andernorts oft angestrengt wirkende Weltoffenheit hat am Hafen ihre natürliche, selbstverständliche Komponente.

Jeder, der in seinem Leben schon einmal einen gehörigen Rausch ausgeschlafen hat, kennt diese spezifische Art des Erwachens. Aus dem Magen steigt in rhythmischen Gezeiten Säure auf. Und der Pelz auf der Zunge erinnert an Omis Persianer. Kleine Hämmer misshandeln die Schädeldecke wie ein Kleinkind sein erstes Xylophon. Die Enden der Kopfnerven schmerzen, als zupfe ein erbarmungsloser Flamenco-Gitarrist daran. Große Hornbläser verursachen dröhnenden Kopfschmerz. Dann die Frage: Wache ich oder träume ich? Oder befinde ich mich womöglich schon im Schattenreich, dahingerafft von allzu viel Aquavit und Astra-Urtyp?

Niemand da, gottseidank, wenigstens das nicht

Das dunkle Dröhnen der Sirenen wird an diesem Morgen immer lauter und mischt sich allmählich mit dem rhythmischen Kurbeln großvolumiger Schiffsdiesel. Ich blinzele hinaus in den nebelverhangenen Tag. Aha: Nebel im Hafen. Daher die Geräuschkulisse. Ich lebe noch. Dann der Blick an meine Seite: Niemand da, gottseidank, wenigstens das nicht. Ich bin vollkommen angezogen, lediglich die Schuhe sind verschwunden (und sollten es auch bleiben). Zum Auslüften schlendere ich später über die prächtige Palmaille zu dem kleinen Park, der Altonaer Balkon heißt. Der Hafen liegt unten in einer dicken weißen Suppe, schemenartig tasten sich große Frachtschiffe durch die Hafenarme. Eine Armada von Schleppern und Barkassen umschwirrt die großen Pötte, mehr hörbar als mit den Augen erkennbar.

Das geisterhafte der Szenerie ist durchaus meiner Verfassung angemessen, denn auch meine Erinnerung lässt nur schemenhafte Umrisse erkennen. Das Konzert der Nebelhörner ist normalerweise Musik in meinen Ohren, doch an diesem Tag schmerzt es bedenklich. Jede Stufe, die ich die historische Köhlbrandtreppe hinunter zum Fischereihafen nehme, verursacht einen scharfen Stich in der Schläfe. Am Ende der Brücke unten rechts liegt der Schellfischposten. Eine Ahnung sagt mir, dass ich in dieser Kneipe gestern noch eingekehrt sein könnte, doch ich wage mich nicht mehr in das Etablissement. Wer weiß, was dort war.

Zwei Fragen martern mein Gehirn. Erstens: Wo hast Du Dein Auto geparkt? Und zweitens: Was ist mit Marina? So hieß damals meine Muse, gleichsam passend zum Hafen. Aber Marina war Berlinerin mit der entsprechenden Schmäh- und Schnodder-Rhetorik, weshalb ich den Anruf bei ihr fürchtete. Also rekonstruierte ich den Abend aus den wenigen mir verbliebenen Puzzlesteinen: Am Anfang des Abends saß Marina noch an meiner Seite. Ein befreundeter Medienmensch hatte aus Anlass seines Geburtstages zu einer ganz besonderen Hafenrundfahrt geladen. Der historische Dampfschlepper Tiger, der normalerweise im Oevelgönner Museumshafen festgemacht hatte, wurde zu diesem Zweck gechartert. Fröhlich paffend und pfeifend hatte uns das Schmuckstück, Baujahr 1910 nachmittags an den Landungsbrücken begrüßt.

Ein bisschen Schickeria, ein bisschen altes Geld, ein bisschen Halbwelt

Bis 1965 versah die nautische Kostbarkeit noch regulär ihren Dienst im Hamburger Hafen und auf der Unterelbe bis Brunsbüttel. Die Bugsierfirma Steffen war bekannt dafür, dass sie ihre Schiffe besonders gut pflegte. Sie stellten mit ihren polierten Messing- und Kupferbeschlägen stets Schmuckstücke der Hansestadt dar. Doch nicht nur optisch, sondern auch technisch zeigte sich der Tiger stets von seiner besten Seite. Ein völlig abklappbares Steuerhaus und ein mit minimalem Kraftaufwand zu kippender Schornstein erlaubte die Durchfahrt unter niedrigen Brücken. Eine Dampfruderanlage (Servo!) gestattete ohne Kraftanstrengung leichtestes Manövrieren und eine gesonderte Heißwasserleitung in die Kajüte ermöglichte - Gipfel des Fortschritts – die Zubereitung von Tee oder Kaffee. Sogar ein Plumpsklosett war eingebaut. 1977 wurde das Museumsstück in einer Hafenecke wiederentdeckt und restauriert. Ganz Hamburg unterstützte die Aktion mit Spenden und Sachleistungen. Wenn es um den Hafen geht, sind die kühlen Hamburger wunderbar sentimental.

An Bord versammelte sich zum Geburtstagsausflug eine nette Gesellschaft, nicht untypisch für Hamburg: ein bisschen Schickeria, ein bisschen altes Geld, ein bisschen Halbwelt. Die einen Mitglied im Fitnessstudio, die anderen im Golfclub und der Rest im Kampfsportverein. Dazwischen, als Wanderer zwischen den Welten Rainer, Lokalreporter bei einem Abendblatt, mit dem Arbeitsschwerpunkt St. Pauli und Reeperbahn. Keiner konnte charmanter aus dem prallen Leben erzählen als Rainer, weshalb er sich sofort mit Marina verstand.

Kapitän und Heizer setzten den Tiger unter gehörig Dampf. Tief ein- und ausatmend stampfte das Schiff hinaus zur großen Hafenrundfahrt. Der Dampfmotor leistete 240 PS bei 130 Umdrehungen pro Minute, der technisch Interessierte konnte die Bewegungen der Kurbelwelle gut mitzählen. Auch die Passagiere gerieten zusehends unter Dampf, das Mitzählen der Aquavitrunden wurde alsbald aufgegeben. Den klaren Schnaps bezeichnete Rainer als „Köm“ und bestellte ihn stets mit der Formel „lütt un lütt“. Das üppige Fischbuffet wollte im Schwimmen genommen werden. Marina rückte im hektischen Bugsierbetrieb von mir ab und kam irgendwann auf Rainers Schoß zu sitzen. Fortan hatte sie weder Blicke für das Trockendock von Blohm und Voss noch für den Bananenkai. Bedauerlicherweise kam auf meinem Schoß niemand zum sitzen, sondern ich blieb alleine mit Buffet und Aquavit. Zwischen Bremer Kai und Stückgutbahnhof muss der Film dann „lütt un lütt“ endgültig gerissen sein.

Bevor Marina in die Schilderung weiterer Details einsteigen konnte, legte ich auf

Alle meine Versuche, die weiteren Geschehnisse des Abends im Nachhinein wachzurufen, waren vergebens. Also rief ich aus einer Telefon-Zelle am Fischmarkt bei Marina an (Mobiltelefone waren noch nicht gebräuchlich). Vorsichtshalber wollte ich mich nicht nach meinem Betragen, sondern lediglich nach dem Verbleib meines Automobils erkundigen. Das überraschte Marina: „Du hast es doch verkauft!“ Wie bitte? „Ja, an Rainer“. Für wieviel? Sie nannte einen Preis, der dramatisch unterhalb der Schwacke-Gebrauchtwagennotierung lag. Ist das dein Ernst? „Nein. Aber Rainers. Schließlich hat er bar angezahlt.“ Und wo ist das Auto? „Ja, bei Rainer natürlich“. Abwechselnd kalte und heiße Schauer liefen über meine Stirn. Bevor Marina in die genüssliche Schilderung weiterer Details einsteigen konnte, legte ich entgeistert auf.

Marina verzieh mir einige Tage später und kehrte an meine Seite zurück. Auch mein italienisches Auto wurde mir rasch zurückgegeben. Grund: Es sprang an feuchten und nebligen Tagen ungern an, angesichts der Hamburger Wetterverhältnisse also praktisch nie. Die nicht unerhebliche Anzahlung blieb allerdings irgendwo im Bermuda-Dreieck zwischen Reeperbahn und Fischmarkt verschollen. Genau wie meine Schuhe.

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