Dirk Maxeiner / 18.06.2017 / 06:15 / Foto: Krassotkin / 2 / Seite ausdrucken

Der Sonntagsfahrer: Nach Osten, immer geradeaus (2)

Zwischen Minsk und Moskau liegt eine stramme Tagesreise. Vorausgesetzt, sie lassen Dich über die Grenze. Richtig problematisch wird es, wenn sie dich nur halb über die Grenze lassen. Besser gesagt: Die Weißrussen lassen dich raus, die Russen aber nicht rein. Und genau so kommt es. Ich fahre mit einem Leihwagen und dem fehlt irgendein Papier. Ich vermute, es fehlt immer irgendein Papier. Etwa einen halben Tag und gefühlte 100 Telefonate später spukt das Fax der Zollstation endlich eine Kopie des gewünschten Dokuments aus. Zu Fuss haben sie mich zwischendurch über die Grenze gelassen, gleich dahinter steht ein Kiosk. Wahrscheinlich lebt der von solchen Fällen. Jedenfalls bin ich nicht alleine.

Die kleinen Straßencafes und großen Raststätten befinden in ganz unterschiedlichen Stadien der ost-westlichen Konversion. Für Ethnologen wären sie ein wunderbares Studienobjekt. Hier lässt sich ablesen, wie Menschen fremde Einflüsse verarbeiten, sie aufnahmen, und oft zu etwas Neuem verwandeln. Gerade in den kleinen Kiosken und Geschäften an der Strasse wird die bunte westliche Waren- und Markenwelt sehr russisch interpretiert. Gummibärchen und Matrjoschkas. Die Völkerkundlerinnen Joana Breidenbach und Ina Zukrigl schreiben in ihrem Buch Tanz der Kulturen: „Waren, Ideen und Institutionen sind in dem Maße authentisch, wie sie von Menschen erfolgreich für ihre eigenen kulturellen Projekte angeeignet werden können“. Es ist nicht so, dass wir alle immer gleicher werden. Wir präsentieren unsere Unterschiede lediglich auf eine einander ähnliche Weise.

Zum roten Platz, dem Nullpunkt Russlands, von dem alle Entfernungen gemessen werden, sind es von Minsk 732 Kilometer. Auf der vierspurigen Strasse ist eine unendliche Lastwagen-Karawane unterwegs. Ein Blick zwischendurch auf die Landkarte schärft den Sinn für Proportionen: In Anbetracht der russischen Landmasse ist es bis Moskau nur einen Katzensprung. Nach Wladiwostock sind es vom roten Platz 9.302 Kilometer. Wahrscheinlich geht der Osten wirklich erst hinter Moskau los. Wer aus dem engen Deutschland kommt, empfindet aber schon den Landstrich zwischen Minsk und Moskau endlos, weit und leer. Abseits der Hauptstrasse wird es sehr schnell sehr einsam. Dörfer, in denen es keinen Laden gibt. Oder besser: Gar nichts gibt. Nur ein paar alte Mütterchen und Väterchen sind zu sehen, die sich mit Subsistenz-Landwirtschaft durchschlagen. Für russische Augen ist diese Region dennoch dicht besiedelt und in höchstem Maße zivilisiert.

Moskau kommt mir vor wie so eine Art Raumschiff, das zufällig am Koordinatenpunkt  55° 45′ Nord, 37° 37′ Ost niedergegangen ist. Am Stadtrand wachsen neue Wohnblocks wie Gebirge in die Höhe. Westliche Limousinen und SUV’s der obersten Preisklasse parken vor teuren Restaurants, Fünfsterne-Hotels und edlen Boutiquen. Und wenn sie nicht parken, dann stehen sie meistens im Stau. Das zeigt sich am Abend auch im nervigen Stop and Go, der es mit Paris oder Tokio ohne weiteres aufnehmen kann. Die Autofahrer der Stadt beeindrucken durch eine äußerst flexible Auslegung der Verkehrsregeln. Dostojewski konnte sich bestimmt keine völlig überlasteten achtspurigen Stadtautobahnen in Moskau vorstellen, er hat aber den kulturellen Überbau für die russische Fahrweise formuliert: „Von Zeit zu Zeit rücksichtslos zu sein sichert eines der kostbarsten und wichtigsten Dinge: Unsere Persönlichkeit, unsere Individualität.“ Einige Herrschaften leben ihre Individualität mit Porsche Cayennes aus, die aus einem mir nicht nachvollziehbaren Grunde auch noch mit blinkenden Blaulichtern ausgestattet sind. Da aber ziemlich viele mit einem Blaulicht ausgerüstet sind, egalisiert sich dieser Vorteil wieder. Man steht dann auf der Überholspur im Blaulicht-Stau. Im Marriott-Hotel zahle ich 100 Dollar für Wodka, den ich nicht getrunken habe. Jemand anders muss sich mit meiner Mini-Bar einen netten Nachmittag gemacht haben. Cheers!

Die Airbags kamen zwischen Wolfsburg und Kaluga abhanden

Aber ich bin eh nicht so der Großstadt-Typ. Nix wie weg. Die russische Provinzhauptstadt Kaluga liegt am schönen Fluss Oka 190 Kilometer südwestlich von Moskau und hat etwa 350 000 Einwohner. Die Dolmetscherin gibt mir bei der Stadtrundfahrt für Besucher aus dem Ausland einen politisch-architektonischen Schnellkurs. Der monumentale Theaterplatz sei „Stalin-Ära“. Die schnell gezimmerten Plattenbauten: „Chruschtschow.“ Die freitragende Markthalle: „Breschnew“. Die dort inzwischen dargebotenen Warenvielfalt: „Putin“.

Schüler halten Ehrenwache an der ewigen Flamme. Der zweite Weltkrieg mit seinen vielen Millionen Toten ist in Russland gegenwärtiger als in Deutschland. Und dann gibt es noch ein Denkmal für die Gefallenen in Afghanistan. Das erinnert mich an die USA. Auch dort erschrecke ich, wenn ich die Daten auf den Gräbern von gefallenen Soldaten lese. Jünger als ich. Während wir uns in Deutschland an eine scheinbar unendliche Friedensperiode gewöhnt haben, ist der Krieg in diesen Ländern schlicht allgegenwärtig. Eltern verlieren ihre Kinder. Als Vater muss ich unweigerlich an meinen Sohn denken. Und daran, welches Glück wir bisher hatten. Es sind ja inzwischen auch mehrere Dutzend Bundeswehrsoldaten bei Auslandeinsätzen getötet worden. Aber die werden hierzulande seltsam versteckt. Russen und Amerikaner gehen anders damit um.

Seit 2007 gibt es in Kaluga ein großes Volkswagen-Werk. Im November 2007 wurde die Automobilfabrik vor den Toren der Stadt zunächst als Montagewerk für Bausätze („CKD-Fertigung“) eröffnet. Um den russischen Zoll zu sparen werden bei der „CKD-Fertigung“ die Autos in Deutschland zerlegt, in Kisten verpackt und in Kaluga wieder zusammen gebaut. Das ist ziemlich umständlich. Außerdem kamen während der Bahnfahrt von Wolfsburg nach Kaluga immer wieder entscheidende Teile abhanden. Zum Beispiel die Airbags. Nun kann man Airbags nicht einfach mal schnell mit dem Flugzeug nachliefern. Die sind nämlich explosiv. Mit großen Hoffnungen und einem Milliarden-Betrag wurde deshalb eine normale Voll-Produktion eröffnet.

Zwischenzeitlich fertigten 4.200 Beschäftigte in Komplettproduktion bis zu 180.000 Fahrzeuge pro Jahr. „Volkswagen“ markierte für Kaluga eine neue Ära, die der stellvertretende Provinzgouverneur Maxim Akimov bei meinem Besuch seinerzeit in eine schlichte Zahl kleidete: „Unsere Arbeitslosenquote liegt bei bei 1,1 Prozent.“ Der Wohlstand der Menschen ist bescheiden, aber er wächst. Mit dem Ende der Sowjetunion am Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts war in Kaluga der Tiefstpunkt gekommen, seitdem geht es langsam wieder aufwärts. Neue Hotels entstehen, die Geschäfte sind gut besucht, die einstmals leeren Regale gefüllt. Theater und Kinos sind gut besucht, sogar die Geburtenrate wächst in der Stadt wieder. Doch inzwischen stellen die politischen Verhältnisse und die damit verbundenen Sanktionen vieles wieder in Frage.

Vor dem Sitz des Gouverneurs der Region Oblast-Kaluga grüsst mich eine Lenin-Statue mit ausholender Handbewegung. Auf dem Schreibtisch des Gouverneurs steht ein kleines Atom-U-Boot. In Kaluga werden die Turbinen dafür hergestellt. Kaluga war einst eine Handelsmetropole. Später wuchs die Stadt zu einem industriellen Zentrum heran. Es nimmt für sich den Begriff „Weltraumstadt“ in Anspruch. 1957 sendete der erste Satellit „Sputnik“ seine piepsenden Signale zur Erde. Die theoretischen Grundlagen dafür hatte Konstantin Ziolkowski gelegt, berühmtester Sohn der Stadt Kaluga.

Die Sowjet-Raumfahrttechnik erinnert mitunter an Landmaschinen

Das Raumfahrt-Museum hat es mir sofort angetan. Die russische Fortschritts-Architekur changiert zwischen Metropolis und leichtem Verfall. Jeder westliche Fotograf würde sich die Finger danach lecken, vor dieser Kulisse irgendwelche Mode-Models zu inszenieren. Der Behördenweg für so eine Genehmigung dürfte aber bis zur Venus und zurück reichen. Dadurch bleibt die Hipster-Szene vorläufig weg, was nicht wirklich schlimm ist. Die heroischen Pioniertage der sowjetischen Weltraumfahrt galten im kalten Krieg als einer der größten Propaganda-Triumphe des Sowjetsystems – und setzen ein beispielloses Wettrennen um die Vorherrschaft im All in Gang. Eine Dame, sie hat wieder so einen typischen Zeigestock in der Hand, erläutert akribisch die Geschichte. Und wehe jemand tuschelt zwischendurch, dann gibts sofort einen Anschiss. Bei uns nennt man das Frontalunterricht, aber ich mag diese Dame, weil sie so ernst nimmt, was sie tut.

Ich lerne: Kopf des Programms war Sergej Koroljow, ein begnadeter Techniker und Inspirator, der wegen seiner Fähigkeiten nur knapp dem Tod in Stalins Gulag entkommen war (letzteres habe ich allerdings gegoogelt, es war nicht Thema). Und auch folgendes gehört nicht zum offiziellen "Narrativ" wie es neudeutsch so schön heißt: Koroljow hatte einen Traum von der zivilen Eroberung des Weltalls - und er verstand es diesen den aufs militärische fixierten obersten Sowjets unterzujubeln. Der Sputnik war nichts anderes als ein Kollateralnutzen aus einer durch Pannen erzwungenen Pause beim Bau von Atomraketen. Als die Herren im Kreml dann die fulminante Propaganda-Wirkung begriffen, verlangten sie immer schneller, immer spektakulärere Erfolge. Gefährliche Zwischenfälle häuften sich und wurden vertuscht.

1960 sollte zum Jahrestag der Oktoberrevolution unbedingt eine neue Superrakete gestartet werden. Als ihm die Warnungen der Techniker vor einer vorzeitigen Explosion zu bunt wurden, setzte sich der befehlshabende Marschall Nedelin als Mutdemonstration auf einen Stuhl neben die Rakete und befahl weiterzumachen. Es kam wie es kommen musste. Ein übermüdeter Techniker legte einen falschen Schalter um  und 74 Menschen kamen beim schwersten Explosions-Unglück der russischen Raumfahrt um. Alles was übrig blieb, war Nedelins Orden „Held der Sowjetunion“. 1961 beförderten die Männer um Sergej Koroljow schließlich den ersten Kosmonaut der Welt, Jurij Gagarin, in eine Umlaufbahn um den Planeten.

Die russische Weltraumtechnik der Anfangsjahre hat etwas Jules-Verne-haftes, die Raumanzüge sahen eher aus wie Taucherausrüstungen. Selbst ein Prototypen-Exemplar der modernen Raumfähre Buran zeigt mitunter landmaschinenhafte Details. Wobei man sich nicht täuschen sollte: Vielleicht ist es gerade dieses grobe und stoische, dass den Erfolg der russischen Weltraum-Expeditionen ausmachte. Die Russen lernten durch Versuch und (oft tödlichen) Irrtum, aber sie lernten auf diese Weise schnell. An Freiwilligen mangelte es ja nicht. „Erst mal schnell bauen, fliegen und daraus lernen, ob alles explodiert oder nicht. Das war deren Philosophie“, erinnert sich der NASA-Vordenker Jesco von Puttkammer mit kopfschüttelnder Bewunderung. Als Gagarin als erster Mensch ins All geschossen wird, dürfte er deshalb mit durchaus gemischten Gefühlen in seiner Kapsel gesessen haben. Der Lastwagenfahrer, der den Steuerungsblock für das Raumschiff anliefern sollte, war betrunken gewesen. Ein russischer Techniker meinte: „Er fuhr gegen einen Baum und testete das Steuersystem auf seine Schlagfestigkeit.“

Russische Technik hat den Ruf grob, aber unkaputtbar zu sein. Und leicht zu reparieren. Ich fange langsam an, die Lada-Niva- und GAZ 69-Freaks zu verstehen. Genau richtig für einen Ausflug nach Sibirien. Und mit einer Rakete auf dem Dachgepäckträger kommt man damit vermutlich auch bis zum Mond.

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Leserpost

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Roland Pressler / 19.06.2017

“Auf dem Schreibtisch des Gouverneurs steht ein kleines Atom-U-Boot.” ... Es bleibt mir nur die Hoffnung, daß es nur das kleines Modell eines Atom-U-Boots gewesen ist. Denn sollte sich der Fakt als solches bestätigen, dann fürchte ich um das bisherige militärische Gleichgewicht.

Winfried Sautter / 18.06.2017

Die Ostblock-Technik war (scheinbar) rückständig, aber robust und unkaputtbar; deshalb ist sie heute noch überall dort im im Einsatz, wo man nicht auf EDV-Diagnosen in Service-Centern und den anschliessenden Austausch von Baugruppen hoffen kann. Die SUVs auf unseren Strassen schaffen es nicht mal durch tiefere Pfützen, weil dann die Elektrik absäuft und den ganzen Stadt-Panzer lahmlegt.

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