Dirk Maxeiner / 22.01.2017 / 06:20 / Foto: Song Gaozong / 0 / Seite ausdrucken

Der Sonntagsfahrer: Mein chinesischer Führerschein

Neben dem Passfoto stehen Namen und persönliche Daten in geheimnisvollen chinesischen Schriftzeichen. Hurra, ich habe einen chinesischen Führerschein! Allerdings befristet auf zwei Tage.  Zu verdanken habe ich das Ding einem großen Autokonzern, der sein neustes Flagschiff vor einiger Zeit auf der chinesischen Insel Hainan der Presse vorstellte. Das ist so eine berühmte Einladung, die man nicht ablehnen kann.

Ich muss mich allerdings erst daran gewöhnen, für den Chauffeur gehalten zu werden. Der Besitzer einer Limousine sitzt in China in der Regel hinten rechts, das Fahren übernimmt ein Bediensteter. Und das nicht nur bei einem Luxusauto, sondern auch bei kleineren Fahrzeugen. Und ein Europäer als Chauffeur eines Chinesen – für Chinesen ist das eine geradezu naturgegebene Hierarchie.

Im geräumigen Fond sitzt Angela Long (25) und fühlt sich sichtlich wohl. Ihre zierliche Person scheint fast ein bisschen verloren in den ausladenden Ledersesseln. Als komfortable Haltung wählt sie den Lotossitz. Sie arbeitet als Übersetzerin und Reiseführerin und kann sich noch kein eigenes Auto leisten. Die übrigen Pressevertreter nahmen ihre Aufgabe ernst und interessierten sich tatsächlich für irgendwelche Drehmomentkurven und die neue Achtgang-Automatik. Deshalb hat Angela nix zu übersetzen und es fragte sie auch keiner, ob sie von ihrer Heimat was zeigen könnte. Mir ist dieses chromglänzende Wunder der Technik aus Old Germany vollkommen schnuppe. Ich will was von China sehen. Also hab ich Angela zu einem Sonntagsausflug eingeladen.

Angela heißt eigentlich gar nicht Angela, sondern Long Shi Ling

Sie fühlt sich als Prinzessin im Märchenland. Die junge Frau wurde hier auf Hainan geboren. Die größte Insel der Volksrepublik China ist in etwa so groß wie Sizilien. Das Eiland liegt ganz im Süden des Landes im südchinesischen Meer und wird wegen der weißen Traumstrände auch „Hawaii Chinas“ genannt. Zahlreiche inländische Touristen und eine halbe Million Ausländer verbringen hier mittlerweile ihren Urlaub.

Angela heißt eigentlich gar nicht Angela, sondern Long Shi Ling. Die Chinesen sind nicht nur ein höfliches, sondern auch praktisch veranlagtes Volk und so suchen sich viele einen westlichen Namen aus, den sich die Gäste aus dem Ausland besser merken können. Angela begleitet mich ins Innere von Hainan. Bei dieser Gelegenheit wollen wir auch bei ihren Eltern vorbeischauen. Unsere Führerin  ist ein bisschen nervös, schließlich fährt man dort nicht alle Tage mit einem Chauffeur aus dem Westen und einem Luxusauto vor.

Um die Tourismus-Metropole Sanya herum ballen sich viele Dutzende von Spitzenhotels, direkt vor der Stadt entstehen gerade drei Türme im Meer, die später ein Siebensterne-Haus beherbergen werden. In der Umgebung stehen mittlerweile 20 Golfplätze zur Auswahl. Gibt es in China so viele reiche Menschen? Angela überlegt einen Moment und antwortet dann: „Nicht so viele, aber genug“. Will sagen: Auch wenn der Prozentsatz der Dollarmillionäre relativ gering sein mag, kommt bei einem 1,3 Milliarden-Volk in absoluten Zahlen dennoch eine stattliche Millionärs-Armee heraus.

Bambus-Gerüste klettern wie Pflanzen an den Hochäusern empor

Der Wandel des Landes ist überall greifbar und findet seinen optischen Ausdruck in tausenden von Baukränen, die die achtspurigen Ausfallstrassen von Sanya säumen. Besonders beeindruckend sind die Baugerüste aus Bambus, auf denen sich die Arbeiter in schwindelnde Höhen emporhangeln. Die Bambus-Konstruktionen scheinen wie Kletterpflanzen an den Wänden zu haften, weniger starres Gerüst als vielmehr organisches und flexibles Gebilde.

1,3 Milliarden Chinesen träumen von einer modernen Wohnung mit fließend Wasser und zeitgemäßen sanitären Standards. Deshalb wachsen im ganzen Land Gebirge von Wohntürmen in den Himmel. „Real Estate“ wie Angela das Immobiliengeschäft nach westlicher Manier nennt, ist eine gigantische ökonomische Maschine. Hinzu kommen riesige Investitionen in die Infrastruktur. Schnellstrassen und Hochstrassen werden aus dem Boden gestampft, aber auch Flughäfen, Stadien, Bahnhöfe und Schnellbahnstrecken. Nein, ich sage jetzt nix über den BER. Niemand baut schneller als die Chinesen. Über unseren Köpfen rast auf Stelzen der nagelneue Schnellzug zwischen Sanya und der Inselhaupstadt Haikou dahin, für die 300 Kilometer Distanz braucht er nicht einmal 90 Minuten. 

Der rasende Aufschwung und das traditionelle Leben sind oft nur ein paar Kilometer voneinander entfernt. Am Morgen lag im Frühstücksraum die englischsprachige Zeitung „China Daily“ aus. Im Wirtschaftsteil brachte das Blatt einen großen Report über Bauern, deren Äcker an der Peripherie der großen Städte zu Bauland erklärt werden. Die Städte saugen solche Flächen wie ein trockener Schwamm auf. Von den teilweise enormen Kompensationszahlungen kaufen sich viele ehemalige Bauern ihr erstes Auto. Wo bis vor kurzem noch Ochsenkarren genutzt wurden, parken plötzlich blitzende Karossen.

Auch Angela träumt davon eines Tages ein eigenes Auto zu besitzen. Bislang nimmt sie den Bus oder eines der preiswerten Motorradtaxis, deren Seitenwagen ein lustiges Sonnendach tragen. Ansonsten dominieren beinahe zweitausend Volkswagen-Jetta-Taxis das Straßenbild von Sanya.

 

Bald hinter Sanya wird die Strasse von dichtem tropischen Regenwald umschlossen. Hainan mit seinen ausgedehnten und naturbelassenen Waldgebieten gilt als eine der schönsten Regionen Chinas. Die Außentemperaturanzeige signalisiert beinahe 40 Grad und die Luftfeuchtigkeit liegt bei fast hundert Prozent. Die Landschaft wirkt wie ein großer Park, was auch an den gepflegten Blumenbeeten am Straßenrand liegen mag. Im Westen würde man einer solchen Straße den Ehrentitel „Garden-Road“ verleihen.

Die Polizei heißt „schwarze Katze“

Die Fahrbahn windet sich in Serpentinen und überquert zahlreiche Täler. Ab und zu gibt eine Lücke in der dichten Bewaldung den Blick auf Bergketten und Seen frei, als habe sie ein chinesischer Aquarellmaler arrangiert. Die Menschen leben hier von Landwirtschaft. Angela zeigt uns Tee- und Pfefferpflanzungen, Avocado- und Betelnussbäume. Zwischendurch flitzt ein kleines Hängebauchschwein über die Fahrbahn.

Das Tempolimit in den ausgedehnten Straßendörfern liegt bei 20 km/h. Als ausländische Gäste halten wir uns strickt daran - ganz im Gegensatz zu den Chinesen. Selbst die Überlandbusse überholen uns zügig. Trotzdem erschrickt uns ein Blitzgerät. Sind wir zu schnell gefahren? Angela beruhigt: „Nein, diese Geräte fotografieren einfach jedes Auto“. Und warum? „Die Behörden wollen wissen, wer hier durchgefahren ist.“  Wie die Bürger anderer Länder auch, haben die Chinesen einen speziellen Kosenamen für die Polizei: „Schwarze Katze“.

Nach zwei Stunden Fahrt erreichen wir „Fünffingerstadt“, so benannt nach dem nahe liegenden „Fünffingerberg“. „Das ist meine alte Schule“, freut sich Angela, als wir ein großes Gebäude passieren, aus dem Scharen von Kindern nach draußen stürmen. Dutzende Lautsprecher geben ihnen noch irgendwelche Informationen mit auf den Nachhause-Weg. Fünffingerstadt liegt in einem Tal und wird von dem umliegenden Bergen gut bewacht. Ganz oben braut sich ein Gewitter zusammen. Zahlreiche Neubauten säumen auch hier die Hauptstrasse. Wir biegen in einen Hinterhof mit einer alten Halle ein. Davor lagern riesige gelbe Findlinge. Die archaischen Steinblöcke wurden in den Gebirgsflüssen der Umgebung in Jahrtausenden rundgewaschen. „Wohlhabende Chinesen dekorieren damit ihre Gärten oder auch die Wohnung“, erzählt uns Sanya, „mein Vater sammelte sie zunächst als Hobby, heute ist es sein Beruf“.

Der Vater biegt mit einer schweren japanischen Limousine älteren Baujahres auf den Hof ein. Laute Diskomusik dröhnt aus dem Inneren. Es steigt ein gut aussehender und muskulöser Mann aus, der in jedem Kung Fu-Streifen eine gute Figur abgeben würde. Seine 50 Jahre sieht man ihm absolut nicht an. Nur sein Gang ist etwas schleppend. „Die Arbeit in den Gebirgsbächen ist schlecht für die Füsse“, erklärt uns Angela, „und dann sind da auch noch die vielen Giftschlangen“. Inzwischen ist das Steingeschäft ein richtiges Familien-Business. Der Vater hütet das unbezahlbare Betriebsgeheimnis: Wie ein Trüffelsammler kennt er die im Tropenwald versteckten Fundstellen der schönsten Findlinge.

Das Hochzeitsfoto wurde später nachgestellt

Der jüngste Sohn Long Shi Yun soll in seine Fussstapfen treten. Er kehrte mit einer Lungenkrankheit aus dem vom Smog geplagten Peking zurück, in der sauberen Heimatluft (es soll die beste Chinas sein),  geht es ihm inzwischen wieder besser. Sein älterer Bruder ist Maler und Bildhauer, verdient seinen Lebensunterhalt aber derzeit im fernen Peking als Landwirtschafts-Experte. Wenn er nachhause kommt formt er aus Steinen und gefundenem Treibholz bizarre Skulpturen. Handwerk und Kunst haben in China eine Jahrtausende alte Tradition und sie werden sehr selbstbewusst wieder entdeckt.

Gemeinsam mit Angela und ihrem Vater  fahren wir zum Haus der Familie. Mutter Xing Wei Mie begrüsst uns in der geräumigen Wohnung im ersten Stock eines achtgeschossigen Wohnhauses. Die Familie hat die Wohnung vor zwei Jahren gekauft. Und das Nutzungsrecht des Hochhaus-Daches gleich mit. Dort züchtet die Mutter Gemüse. Nur mit der Hühner- und Karnickelzucht funktionierte es nicht richtig: „Es ist einfach zu heiß da oben“, meint Angela. Zum Ausgleich überrascht eine große Schildkröte den Besucher im Bad, die sich an dem kühlen Örtchen offenbar pudelwohl fühlt.

Angela scheint von ihrer Mutter leicht genervt: „Sie will mich immer mit dem Sohn des reichen Nachbarn verheiraten“, klagt sie. An der Wand hängt das Hochzeitsfoto der Eltern. „Sie haben es später nachgestellt“, erzählt Angela, „als sie geheiratet haben waren sie zu arm um einen Fotografen bezahlen zu können“. Alles, was sie damals besaßen war ein altes Fahrrad. Den Gästen zu ehren wird das Programm des großen Flachbildschirmfernsehers auf CNN umgestellt. Unter dem Großfernseher steht der selbst gebrannte Reisschnaps, den der Vater mit Bienenwaben und Rindenstücken verfeinert.

Die Hausfrauen zocken den ganzen Tag um Geld

Nach und nach kommen neugierige Nachbarsfrauen herein, um den ungewöhnlichen Besuch zu mustern. Die Wohnungstüren im Hochhaus sind alle immer geöffnet.Chinesen sind nicht nur gesellig sondern auch neugierig auf die Welt und darauf, was die Welt über sie denkt. Außerdem haben sie es faustdick hinter den Ohren: „Das sind die Gambling-Schwestern meiner Mutter“, grinst Angela. Die Chinesen lieben das Glücksspiel. Über verwinkelte Treppen steigen wir in einen Gemeinschaftsraum der Partei. Er entpuppt sich als Spielhölle: Die Frauen der Nachbarschaft sitzen zusammen und spielen an drei Spieltischen das Glückspiel „Ma Jiang“. „Und zwar täglich mehrere Stunden“ versichert Angela glaubhaft – und mit echtem Geld.

Auf der Fahrt zurück fragen ich Angela, wie es komme dass ihre Eltern drei Kinder haben. „Wir gehören der Minderheit der Li an, die nur auf Hainan leben“, antwortet sie, „und solche ethischen Gruppen waren von der Einkind-Politik der Regierung ausgenommen“. Ähnliches gelte auch für Bauern, „denn die Söhne sind deren Arbeitskräfte“. Inzwischen wird die Einkind-Politik durch immer mehr Ausnahmen gelockert. Auch stellt die rapide alternde Bevölkerung China vor große demographische Probleme. Wer soll für die Alten aufkommen, wenn es am Nachwuchs mangelt? Es sind die gleichen Fragen wie in Japan oder Europa, wo eine staatlich verordnete Einkind-Politik völlig undenkbar wäre, die Geburtenraten aber ganz ohne Zwang stark zurückgegangen sind. So geraten sehr unterschiedliche Gesellschaften mit sehr unterschiedlichen politischen Systemen in ein ähnliches Dilemma.

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