Dirk Maxeiner / 17.04.2016 / 13:00 / Foto: Belinda Hankins Miller / 1 / Seite ausdrucken

Der Sonntagsfahrer: Haltungsnoten beim Überholen

Mein erstes Auto war ein Volkswagen Käfer 1200 in anthrazit, 34 PS, Baujahr 1963. Er hatte viele Jahre beim Wasserwirtschaftsamt in Trier Dienst getan und kam dann für ein paar hundert Mark bei einer Versteigerung von öffentlichem Gut in meine Hände. Das war dann der Tag, an dem dieses Auto zum ersten mal mit Dauer-Vollgas konfrontiert wurde. Ich arbeitete als Volontär bei einer Autozeitschrift in Stuttgart und fuhr jedes Wochenende nachhause in die Eifel. Die Fahrzeit betrug etwa dreieinhalb Stunden, überwiegend Autobahn, teils aber auch Hunsrück-Höhenstrasse. Die gewundene Straße mit den Serpentinen hinunter ins Moseltal bei Zeltingen war stets Höhepunkt, die Ideallinie wurde millimetergenau ausgereizt.

Außerdem hatte ich mir mangels Leistung eine Überhol-Methode angeeignet, die ich noch heute anwende. Auf unübersichtlichen Straßen muss man sich zunächst etwas hinter den Vordermann zurückfallen lassen. Dann vor einer potentiellen Überholstelle (die kannte man natürlich auswendig) voll beschleunigen und mit ordentlich Tempo herannahen. Sobald die Sicht frei ist, gibt es dann zwei Möglichkeiten: Es kommt jemand entgegen und man muss voll in die Bremsen steigen. Oder die Gegenfahrbahn ist frei, man schert rasant aus und zieht mit hohem Überschuss vorbei.

Solche Improvisation lernt der Mensch nur in Mangelsituationen, also mit Automobilen der Käfer- oder Trabant-Leistungsklasse. Ossis wissen am besten wovon ich rede, schließlich übten die bis 1989. Ich beobachte dort auch mitunter noch jene leicht schiebende Haltung hinterm Lenkrad, die angesichts moderner Autos zwar nicht mehr notwendig, aber offenbar tief in den Genen eingebrannt ist. Überholen mit Anlauf gehört inzwischen aber zu den aussterbenden Künsten am Steuer eines Fahrzeugs genau wie Landkartenlesen, Zwischengasgeben, Mitdenken und Vorausahnen. Das macht heute alles die Elektronik, manchmal aber auch nicht.

Neulich bin ich mal wieder meine alte Strecke in die Eifel gefahren. Das Auto, mit dem ich das tat, hatte ziemlich genau zehnmal soviel Leistung wie mein alter Käfer. Das Erstaunliche: Obwohl ich mich redlich bemühte schneller anzukommen, betrug die Fahrzeit exakt wie damals dreieinhalb Stunden. Verkehrsdichte, Tempolimits und Baustellen führen dazu, dass man in modernen Autos ständig mit den Hufen scharrt, den Pferden aber keinen Auslauf geben kann. 340 PS auf einer deutschen Autobahn am Freitagnachmittag sind wie der Besuch in einem Striplokal mit dem Schild „Anfassen verboten“. Man kann es aber auch mathematisch beschreiben: Der Quotient aus durchschnittlicher Fahrzeug-Leistung einerseits, Verkehrsdichte und Tempolimits andererseits ist in den vergangenen 40 Jahren offenbar konstant. Auf der erwähnten Strecke heißt das: Dreieinhalb Stunden. So ist das wenn Leistung keine Geschwindigkeit mehr erzeugt, sondern nur noch Reibung.

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Florian Huber / 17.04.2016

Sehr geehrter Herr Maxeiner, gefreut habe ich mich besonders über die beschriebene Überholmethode. Ist sogar rennstreckenkompatibel. Wenn man mit einem Leistungsdefizit unterwegs ist, es dafür aber in den Kurven ordentlich krachen lassen kann. Meine persönlich schönste Erinnerung war Ende der 80er gegen 1 Uhr morgens irgendwo auf der Route Napoléon mit einem Fiesta 1.1 – geballte 45 PS. Da wußte ich, daß nach einer Rechts-Links-Kombination eine schöne Gerade kommt. Mit Gefälle! Der 3er-BMW hat erst gemerkt, wer sich da an ihm vorbeidrückt, als er’s lesen konnte. Zu spät - die nächste Kurve war zum Glück dicht genug. Auf die gleiche Weise habe ich auch mal einen R5 Turbo mit dem Motorrad überholt. Auf der Abfahrt von einem Pyrenäen-Paß. Nur rollend - mit abgestelltem Motor. Der Kollege war sichtlich genervt, als ich an ihm vorüberglitt und er merkte, daß er von 0 PS überholt worden war. Einige Kilometer später hat er mich dann aber gekriegt. Irgendwann wird’s halt wieder flach… Mit amüsiertem Gruße, Florian Huber PS. Trotz mehr Pferdestärken, mach ich’s mmer noch gern so (in deutlich sanfter dosierter Form). Geschwindigkeitsüberschuß beim Überholen bürgt stets für Sicherheit.

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