Der Aufenthalt in einer garantiert medienfreien Zone kann mitunter äußerst gesund sein. Beispielsweise auf den Hochebenen der chilenischen Atacama-Wüste. Da habe ich vor einigen Jahren zwei Wochen verbracht - und doch glatt die Schweinegrippe verpasst. Dafür war meine Familie umso besorgter: Liegt die Atacama nicht in Südamerika, also irgendwie bei Mexiko (wo die Schweinegrippe ausgebrochen war)? Zum Glück funktionierte das Handy nicht und der nächste Hotspot war ziemlich weit entfernt.
Anhand der Erzählungen und des nachträglichen Studiums der Tageszeitungen konnte ich den Hergang der Schweingerippe aber nach meiner Rückkehr rekonstruieren: Zunächst erste Fälle in Mexiko, dann überall diese Atemschutz-Masken. Sieht aus wie Giftgas-Alarm, so etwas lieben Fotografen und Kameramänner. Die Masken werden knapp. Von Tag zu Tag fettere Schlagzeilen: Weltweite Pandemie! Hunderte von Toten! Notstand in Mexiko! Erste Erkrankungen in Deutschland! Ausnahmezustand in USA! Sogar Präsident Obama muss Stellung nehmen. Dann erste, vorsichtige Rückzieher. Schließlich die Fakten - nicht mehr in Riesenlettern, sondern in deutlich reduzierter Schriftgröße. Die Weltgesundheitsorganisation zählte insgesamt 65 Tote. Zum Vergleich: Die saisonale „normale“ Grippe kostet weltweit jährlich etwa 200.000 Tote.
Mit etwas Abstand betrachtet, wirkt solches Geschehen wie eine gewaltige Dampfmaschine, die irgendwann leise pfeifend ausläuft. Bis die nächste Sau durchs Dorf getrieben wird. Ich nenne das mal den Schweinezyklus. Was mich zu folgender Überlegung führt: Sollte man Internet und Zeitung wirklich gleich lesen oder erst einmal 14 Tage abhängen lassen? Das schafft man natürlich nicht. Wir sind ja alle Medien-Junkies. Die einzige Möglichkeit, sich derartigen Zumutungen zu entziehen, wäre ein Ort, an dem sich kein Hotspot der Telekom lohnt. Und da hätte ich einen Tipp.
"Wenn es Krieg gibt, gehen wir in die Wüste"
Bei meinen Überlegungen, in welchen Winkel dieser Welt man sich vor dem grassierenden Wahnsinn dieser Tage zurückziehen könnte, fällt mir immer wieder die Atacama ein. Trump, Le Pen, Macon, Merkel, Kim Jong-Un und Augstein finden da einfach nicht statt. Es gibt sie gewissermaßen nicht, welch ein glücklicher Landstrich! Zu meinen Lieblingsbüchern zählt "Wenn es Krieg gibt, gehen wir in die Wüste". Es ist die Geschichte zweier Deutscher die sich in der Wüste von Namibia dem zweiten Weltkrieg entzogen haben.
Gleicher Gedanke, andere Wüste: In der Atacama würde vermutlich auch der Dritte Weltkrieg erst mit Verspätung bemerkt. Na gut, in Copiapó, der örtlichen Metropole, würden Sie es schon mitkriegen. Die Stadt selbst machte übrigens das letzte und - vermutlich einzige mal - 2009 Schlagzeilen als in einem Goldbergwerk 45 Kilometer nordwestlich der Stadt 33 Bergleute verschüttet wurden. Nach 69 Tagen und einer internationalen Rettungsaktion konnten sie geborgen werden. Ansonsten kommt ab und zu mal die Rallye Paris-Dakar vorbei. Das liegt an dem Dünenmeer, das sich nicht weit von der Stadt in den Ausläufern der Atacama über hunderte Kilometer ausbreitet, darunter die höchsten Sandberge der Welt. Fotografen und Kameramänner lieben diese spektakuläre Szenerie.
Am Rande der Stadt liegt der alte, verlassene Flughafen (es wurde inzwischen ein neuer weiter entfernt gebaut). Wenn ich der Welt einmal den Rücken zukehren wollte, dann wäre das mein liebster Platz.
Der Wind bläst den Staub durch den verlassenen Tower und die kleine Passagierhalle. Die Hitze flimmert über der Rollbahn. Unter einem einsamen Baum wacht ein Rottweiler. Er ist ganz offensichtlich nicht auf Besuch eingestellt. Schließlich taucht ein Mann mit leicht hinkendem Gang auf. Sergio Stocker lebt mit seiner Frau in einem alten Wohnanhänger, der in einem klapprigen Wellblech-Hangar mit der Aufschrift „Aerodromo“ steht. Außerdem parken darin drei verstaubte Leichtflugzeuge. Auf einer Werkbank liegen die Einzelteile eines demontierten Flugmotors.
Hausmeister eines verlassenen Airport-Towers in der Atacama
Das Teil erinnert mich an einen alten luftgekühlten VW-Boxermotor. Ein Käfer war mein erstes Auto und ich habe den Motor mal selbst zerlegt und wieder zusammengebaut. Ich weiß daher, was das für eine kontemplative Tätigkeit ist. Und welches Erfolgserlebnis eintritt, wenn so ein Motor spukend und schüttelnd tatsächlich wieder zum Leben erwacht. Wenig Geld und viel Zeit sind nicht die schlechtesten Voraussetzungen, ein glückliches Leben zu führen. Man muss es nur wollen.
Sergio Stocker gehört zu den Menschen, die irgendwann mal diese Entscheidung getroffen haben. Über das, was vorher war, verliert er kein Wort. Jetzt ist er jedenfalls Chefpilot der Stocker-Airways und Hausmeister eines Towers in der Atacama. Er besitzt ein paar Leichtflugzeuge, die ich hier mal als eng zusammen fliegende Formation von Ersatzteilen beschreiben möchte. Und außerdem einen 30 Jahre alten Pickup, dessen abgefahrener Hinterreifen mal wieder platt ist.
Sergio fliegt Geologen, Archäologen und Fotografen zu den gewaltigen Dünenformationen in der Nähe. Sogar die Reporter von „National Geographic“ hat er schon durch die Lüfte geschaukelt. Die Sicht vom Freisitz eines „Ultralight“ ist einfach unschlagbar.
Im kleinen Wohnwagen zeigen Sergio und Luz Marta, seine Lebensgefährtin, Bilder in einem sorgsam gehüteten Foto-Album. Es ist auch noch ein Freund da, Ercio Mettifogo. In Copiapó versammeln sich ziemlich viele ausgeprägte Charaktere. Der rührige Chilene italienischer Abstammung könnte einem Italo-Western entsprungen sein. Er besitzt zwei Geschäfte für Hundefutter. In Copiapó wimmelt es nur so vor großen Hunden, weiß der Teufel warum. Nebenbei betätigt sich Ercio als Wüstenscout und Bergführer.
Ercio will mir unbedingt die höchsten Dünen zeigen. Die Fahrt dauert laut seiner Auskunft nur 20 Minuten. Es sind allerdings 20 chilenische Minuten: Sie entsprechen eineinhalb deutschen Stunden. Mit seinem klapprigen alten Jeep weiht er mich dann in die Geheimnisse des Auto-Surfens ein: „Einerseits musst Du schnell genug sein, um über den Kamm der Düne zu gelangen. Anderseits musst Du langsam genug sein, um dahinter nicht auf der Nase zu landen.“ Idealerweise kippt das Auto wie eine Wippe über den Kamm. Es gibt hier keine Grünen, die so etwas verbieten könnten. Zumindest noch nicht. Bei den Bergarbeitern, deren Verhältnis zur Natur sich auf Liebe zu den Rohstoffen beschränkt, hätten sie es auch schwer.
Gleich kommt Charles Bronson mit der Mundharmonika
Die Stadt am südlichen Rand der chilenischen Atacama wird normalerweise vom rauen Leben der Minenarbeiter geprägt. Früher lagerten hier die größten Silbervorräte Südamerikas, heute wird vor allem Kupfer und Eisenerz geschürft. Der Bergbau bescherte der Stadt 1851 die erste chilenische Eisenbahn. Sie führt mitten durch die Wüste. Die Ruinen alter Bahnhöfe schmoren dort in der Sonne. Man erwartet jeden Moment Charles Bronson mit seiner Mundharmonika.
In Copiapó, dass die Einheimischen zu „Coppó“ verkürzen, haben sie eine alte Lokomotive als Sehenswürdigkeit behalten. Und auch die Attraktion hat was mit Bergbau zu tun: Das große Spielkasino, das wie ein UFO mitten im staubigen Ortszentrum parkt. Hier wird so mancher Monatslohn zügig wieder in den chilenischen Geldkreislauf zurückgeführt. Irgendwie scheinen alle zu spielen. Die Frauen an den einarmigen Banditen und die Kerle am Roulette- oder Poker-Tisch. Manche sehen wie brave Bürger aus, andere haben deutlich das Wilde-Jungs-Gen im Gesicht. Es würde einen nicht wundern, wenn jemand am Eingang die Waffen einsammeln würde.
Risikobereitschaft und Leidenschaft liegen hier ziemlich dicht beisammen. In widriger Umgebung auf sich allein gestellt zu sein, ist den Menschen in dieser Region vertraut. Der Pioniergeist lebt. Sergio Stocker, der seinen hinkenden Gang einem Absturz in Bolivien verdankt, überflog 1990 als erster mit einem Ultralight-Flugzeug die Anden. Und zwar ohne Instrumente, nur auf Sicht. „Das größte Problem in 6500 Metern Höhe war die Kälte“, erzählt Sergio. Er hatte nämlich kein Geld für eine anständige Schutzkleidung, nur für eine Skijacke. Ansonsten sieht er von da oben alles ziemlich entspannt: Sergio fliegt über die Anden, wir übers Kuckucksnest.