Jedes Land hat die Straßen, die es verdient. Deutschland verfügt beispielsweise über ein paar tausend abrissreife Brücken. Achtzig Prozent der Bevölkerung, die schon länger hier lebt, beklagt Schlaglöcher und Verfall und die neu hinzugekommenen wundern sich. Besonders der gemeine chinesische Tourist staunt, schließlich werden in seiner Heimat jährlich etwa 100.000 Kilometer neue Straßen gebaut, bis 2030 soll es 85 000 Kilometer nagelneue Autobahnen geben. Straßen erzählen eben auch immer etwas über die Weltanschauung, die das jeweilige Land und seine Ureinwohner gerade prägt, die einen glauben an die Zukunft, die anderen ans Autofasten.
Die US-amerikanische Route 66 beispielsweise transportiert seit 1926 den Traum vom „Go West“ und war eine ursprünglich fast 4000 Kilometer lange Verbindung von Chicago nach Santa Monica, wo sie am Santa Monica-Pier direkt im Pazifik endete. Danach geht’s nur noch mit Aquaplaning weiter. Heute sind die verbliebenen Teilstücke der "Mother Road" oder "Main Street of America" ein Anziehungspunkt für Touristen und Nostalgiker. Die Deutschen, die sich auf Abschnitten dieser Strecke vom Autofasten erholen, erkennt der Reisende sofort an den quietschbunten Ford-Mustang-Cabriolets, die Avis und Sixt für jenen deutschen Bevölkerungsteil bereit halten, der mal heimlich Roadmovie spielen will.
Auf der australischen Gibb River Road wäre das die eindeutig falsche Fahrzeugwahl, für ein Cabriolet scheint die Sonne einfach zu viel. Auch hier trifft man auf Teutonen, diesmal mit Toyota-Geländewagen verkleidet – und ebenfalls wild entschlossen, sich vom Autofasten zu erholen. Die Geschichte der Gibb River Road beginnt 1960 als sogenannte "beef road". Sie wurde also angelegt, um Schlachtvieh von den entlegenen Farmen der Kimberley-Region nach Derby zu transportieren. Sie verbindet den Great Northern Highway südlich von Wyndham mit dem Derby Highway bei Derby.
Solarrennen sind das letzte Aufbäumen gegen das Autofasten
Die noch berühmtere australische Sehnsuchts-Straße ist aber der Stuart Highway, er verläuft über eine Länge von rund 2700 km in Süd-Nord-Richtung und verbindet Port Augusta im Süden mit Alice Springs im Zentrum des Kontinents und Darwin, der Hauptstadt des Northern Territory. Da die Strecke heutzutage vollkommen asphaltiert ist, führt dort ab und zu ein Rennen mit Solarmobilen entlang. Gefahren wird bei der „World Solar Challenge“ während sieben Tagen von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Solarrennen sind gleichsam das letzte Aufbäumen der menschlichen Spezies gegen das Autofasten.
Nicht ganz so politisch korrekt geht es auf dem mexikanische Teil der Panamericana zu. Der wurde im Jahre 1950 fertiggestellt und sogleich mit einem mehrtägigen Autorennen von Norden nach Süden quer durch das Land eingeweiht. Zahlreiche Mexikaner und Gringos hatten es dabei zu eilig und kamen nicht ins Ziel, sondern in den Himmel zum ewigen Autofasten, warum das Spektakel 1954 verboten wurde. Inzwischen gibts die Carrera Panamericana als Rallye für Oldtimer wieder, die Mexikaner sind eben gut katholisch. Und das heißt: Sie haben immer eine vor der göttlichen Instanz haltbare Ausrede das Autofasten abzusetzen.
Womit wir bei der Deutschen Märchenstraße wären. Die Ferienroute führt seit 1975 von der Brüder-Grimm-Stadt Hanau im Kinzigtal über 600 Kilometer bis nach Norddeutschland zu den Bremer Stadtmusikanten beziehungsweise zum Klabautermann in Bremerhaven. Sie reiht die Lebensstationen der Brüder Grimm sowie Orte und Landschaften, in denen ihre Märchen beheimatet sind, zu einem Reiseweg aneinander. Unter anderem liegt auch das ein oder andere Parteibüro der Grünen am Wegesrand.
Die Italiener sind fast so katholisch wie die Mexikaner, haben aber einen gewissen Vorsprung im Straßenbau (wenn man die Atzteken mal außer acht lässt). Ihre Via Aurelia wurde im Jahre 241 vor Christus in Auftrag gegeben und führt von Rom nach Pisa. Seitdem gab die alte Römerstrasse berühmten Autos wie dem Lancia Aurelia ihren Namen. Sie ist mehr als eine Strasse, sie ist ein Stück Italien als solches.
Das merkt der Reisende jedes Jahr während des Oldtimer-Rennens Mille Miglia. Ich habe es vor ein paar Jahren beim 50. Jubiläum der Marke Lamborghini erfahren. Die Italiener veranstalteten auf der Aurelia ein außerhalb des Landes undenkbares Spektakel: Eskortiert von einem Dutzend Polizei-Motorrädern eilten über 300 dieser bei Flutlicht- und Rotlicht-Größen beliebten Sportwagen im Renntempo von Bologna nach Rom und zurück.
So ein Lambo braucht halt Auslauf, das versteht in Italien jeder
So ein Lambo braucht halt Auslauf, das versteht in Italien jeder. Man stelle sich einmal vor, in Deutschland würden ein paar hundert Porsche von Stuttgart nach Berlin und zurück rasen - und das unter Polizeischutz. Das wäre die große Stunde von hyperventilierenden Medien, erhobenen Zeigefingern und die linke Spur blockierenden Oberlehrern. Gar nicht auszudenken, was Bischof Bedford-Strom und Katrin Göring-Eckardt dazu sagen würden.
In Deutschland erfüllt solches Tun den Tatbestand des Unnützen Hin- und Herfahrens. Das ist laut Wikipedia eine Ordnungswidrigkeit nach § 30 Abs. 1 Satz 3 StVO und wird mit einem Verwarngeld von 20 Euro geahndet: "Der Tatbestand ist erfüllt, wenn man ohne Notwendigkeit innerhalb einer geschlossenen Ortschaft eine Strecke mehrmals abfährt und dadurch andere belästigt werden. Dies kann beispielsweise bei der Cruisen genannten Freizeitbeschäftigung der Fall sein, bei der man mit einem Automobil langsam an von vielen Passanten frequentierten Orten entlangfährt. Die Nachweisbarkeit gestaltet sich in der Realität durchaus als schwierig." Zur Entlastung der Italiener möchte ich anführen, dass sie ja nicht innerhalb einer Ortschaft sinnlos hin und herfuhren, sondern zwischen zwei Ortschaften, nämlich Bologna und Rom.
Trotzdem: In Deutschland würde der Welt-Sicherheitsrat angerufen – mindestens. Die Italiener riefen statt dessen die Luftwaffe zur Hilfe, die die automobilen Tiefflieger auf dem Stützpunkt Grosetto zum Zwischenstopp willkommen hieß. Zur Aufmunterung zeigten die Luftwaffepiloten der irdischen Konkurrenz wo der Büttel hängt: Die Kampfflugzeuge donnerten in Flughöhe eines Countach über das Feld und stiegen danach mit einem Höllenlärm senkrecht in die Lüfte bis sie in den Wolken über der ligurischen Küste verschwanden. Das Ganze natürlich ebenfalls unter extremer Dehnung der Befehls- und Rechtslage, schließlichj handelt es sich um sinnloses Hin- und Herfliegen. Das war deshalb so schön anzusehen, weil sich die Italiener ansonsten ja auch schon den Gängelungen des Zeitgeistes unterwerfen und ihre Fluppen brav vor dem Restaurant rauchen.
Die Bevölkerung des Landes stand über einige hundert Kilometer winkend am Rande der Aurelia und freute sich. Selbst die hektischen Römer blieben gelassen und freundlich, als ein halbes Dutzend historischer Lamborghinis im Feierabendstau vom Hitzekollaps dahin gerafft wurde und die Strasse zusätzlich blockierten. Die Lamborghinis übernachteten dann mit päpstlichem Segen auf der Borgo Santo Spirito unmittelbar vor dem Petersdom. Das war selbst für Agnostiker fast ein Grund katholisch zu werden. Allerdings noch zu Zeiten des alten Papstes.