Dirk Maxeiner / 29.04.2018 / 06:24 / 6 / Seite ausdrucken

Der Sonntagsfahrer: Echtzeitgeist

Meine regelmäßigen Autofahrten zwischen Süddeutschland und Berlin erledige ich am liebsten im Morgengrauen des Sonntags. Man muss zwar sehr früh aufstehen, wird aber durch geradezu paradiesische Verkehrsverhältnisse belohnt. Das ist noch echtes Siebziger-Jahre-Feeling. 

1973 im Zuge des „Jom-Kippur-Krieges“ und der daraufhin von den arabischen Staaten inszenierten Ölkrise gab es sogar mal autofreie Sonntage im ganzen Land. Ich erinnere mich sehr gut daran, weil ich sonntags fahren durfte. Mein Bruder bestritt mit einem Marktstand sonntägliche Dorf- und Stadtfeste und erhielt deshalb eine Ausnahmegenehmigung. Wir waren mit seinem Mercedes 280 SE absolut allein auf der Autobahn. Dennoch musste man aufpassen, weil Fußgänger, Radfahrer und Hobbyreiter die Mitte der Schnellstraße unerlaubterweise als Revier entdeckten. Es gab übrigens auch ein generelles Tempolimit von 100 km/h, an das wir uns selbstverständlich nicht hielten.

Wir waren damals politisch eigentlich komplett links, dachten wir jedenfalls. Was das Verhältnis zum Automobil anbetrifft, standen wir jedoch rechts von Dschinghis-Khan. Tempolimit? Nicht mit uns. Nicht weit vom Nürburgring aufgewachsen, konnten wir die Rundenzeiten der jeweils schnellsten Fahrer herunterbeten. Hubert Hahne hatte 1966 die 22 Kilometer der „grünen Hölle“ mit einem BMW 2000 TI erstmals unter zehn Minuten bewältigt. Leitplanken gab es damals dort noch nicht, die Eifel-Bäume wurden lediglich von Jahr zu Jahr dicker. Seitdem ist viel Zeit vergangen, eine gewisse Abneigung gegen übertriebene Verkehrsvorschriften ist bei den Kindern der Region aber genetisch verankert. 

Die ideologische Begleitmusik vom Club of Rome

Das Auto, zuvor Motor und Traum des Wirtschaftswunders zugleich, verlor damals plötzlich seine unbefleckte Unschuld. Der aufkommende Bürgerschreck entdeckte es als Zielscheibe. Mehr konnte man Papa nicht treffen, als mit der Ankündigung, ihm sein Blechspielzeug wegzunehmen. Das ist heute noch genauso. Die technische Entwicklung des Automobils in den letzten fünf Jahrzehnten mag beeindrucken, noch erstaunlicher ist aber die Tatsache, dass seine Feinde es nicht schafften seinen Mythos zu zerstören. Obwohl sie damals schon Morgenluft witterten, haben sie im Verlauf des letzten halben Jahrhunderts nicht einmal vermocht, dem Brumm-Brumm in Deutschland ein allgemeines Tempolimit zu verpassen. 

Die ideologische Begleitmusik lieferte vor 50 Jahren übrigens der Club of Rome mit seinem Bestseller „Die Grenzen des Wachstums“, der ein baldiges Ende wichtigster Rohstoffe, darunter Erdöl prophezeite. Das Öl weigert sich seit nunmehr fast 50 Jahren auszugehen, was der Reputation des Anti-Wachstums-Clubs aber nicht geschadet hat. Es ist also nicht nur das Auto zäh, sondern auch die Faktenresistenz seiner Gegner. Das Ziel der autobefreiten Republik ist auch den heutigen Ideologen ein Herzens-Anliegen, man hat lediglich die Argumente gewechselt. Heute sind es gemeingefährliche Diesel-Abgase oder die noch gemeingefährlichere Klima-Katastrophe, die danach verlangen, Papa sein Spielzeug kaputt zu machen. Sie sägen jetzt schon so lange am Auspuff, dass er wohl nicht noch einmal 50 Jahre halten wird.

Genießen wir deshalb das Autofahren, solange wir noch dürfen. Wenn hierzulande dann endgültig Panne ist, haben wir wenigstens schöne Erinnerungen. Einer meiner Kult-Momente besteht darin – siehe oben – am Sonntagmorgen um vier Uhr den vierspurigen Berliner Kaiserdamm in Richtung Autobahnauffahrt Avus hochzucruisen. Da bist du allein mit den Lichtern der Stadt und ein paar Taxifahrern. Und um diese Zeit findet man auch immer gute Musik im Radio, die dich nicht fahren, sondern schweben lässt. Die Stimmung erinnert mich ein wenig an den ewigen Raser-Klassiker „Rendevouz“ (1976) von Claude Lelouch, der eine verwegene Fahrt durch das frühmorgendliche Paris zeigt. Es geht um eine Verabredung auf den Stufen zu Sacré-Cœur, die der Fahrer nicht verpassen darf. Und es ist zugleich ein Anti-Nanny Manifest, in dem kein Wort gesprochen wird. Zu hören ist lediglich ein Ferrari-Triebwerk und Zwischengas.

Kultur-Schlangen sind angenehmer als Konsum-Schlangen

Ich habe letzten Sonntag trotzdem eine Verabredung verpasst. Ganz einfach, weil ich mich nicht an mein Credo gehalten habe, mit dem ersten Hahnenschrei durchzustarten. Statt dessen befand ich mich alsbald in einem Stau. Da fielen mir zum ersten mal grüne Transparente an den Autobahnbrücken auf, die sinngemäß lauten auf: "Termine? Bleib ruhig!". Och, da wär ich jetzt gar nicht drauf gekommen. Aus welchem öffentlichen Topf wird sowas bloss bezahlt?

Da lob ich mir doch einen Service für Autofahrer, der in der Urlaubszeit und während Brückentagen Hochkonjunktur hat: die Verkehrsmeldung mit „Echtzeitmessung“. War man sich früher angesichts eines Staus von drei oder vier Kilometern Länge sicher, stundenlang auf dem Asphalt zu schmoren, so erfahren wir jetzt, dass dies unter Umständen „nur 23 Minuten“ dauert. Dann kommt aus dem Radio die Empfehlung: „Bleiben Sie auf der Autobahn“. 

Es soll ja Menschen geben – und ich gehöre dazu – die reagieren auf Schlangen jedweder Art mit sofortigem Fluchtverhalten. Frei nach dem englischen „avoid the crowd“ – „halte dich fern von der Masse“. Jetzt lerne ich dank der Echtzeitmessung – mitunter ganz gegen die Intuition – dass es oft besser ist, sich in Geduld zu fassen, anstatt hektische Umwege zu suchen.

Das gilt wahrscheinlich nicht nur für die Autobahn, sondern auch fürs Leben. Die Autobahn ist sozusagen die Schule der Nation. Wenn sich alle brav und geordnet anstellen, geht’s für die Gemeinschaft insgesamt meist am schnellsten. Nennen wir es mal deutsche Leitplanken-Kultur. Doch leider gibt’s immer mehr, die sich frech vordrängeln. Das Gegenteil des Vordränglers ist der Ausweicher. Er nimmt die Landstraße oder wandert gleich aus.

Wobei Schlange nicht gleich Schlange ist. Schlangestehen vor berühmten Kunst-Museen oder angesagten Theater-Vorstellungen hat durchaus etwas prestigiöses, ganz im Gegensatz zu den letzten drei Kilometern vor dem Hermsdorfer Kreuz. Kultur-Schlangen sind meist auch angenehmer als Konsum-Schlangen, etwa vor der Supermarkt-Kasse oder an der Essener Tafel. Je profaner der Grund für’s Anstehen, desto häufiger treten im übrigen Vordrängler auf. Besonders verpönt ist diese Unart bekanntlich unter den disziplinierten Engländern, die das Warteverhalten in einer Schlange sogar zum Bestandteil des Einbürgerungstests machen wollten. Ich halte das für eine prima Idee. 

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Werner Arning / 29.04.2018

Aufschlussreich sind auch die Schlangen vor der Aldikasse. Da werden regelmäßig die Rentner sehr lebendig, wenn eine zweite oder dritte Kasse aufgemacht wird. Da zeigen sie mitunter, was sie noch drauf haben. Vor allem Durchsetzungsvermögen.

Elmar Stede / 29.04.2018

Sehr geehrter Herr Maxeiner, erst mal vielen Dank für diesen amüsanten Text - aber so richtig umgehauen hat mich der Video-Link; selber Baujahr ‘73, Auto-begeistert und Tempo-affin musste ich entsetzt feststellen, welches automobilistische Kleinod da seit 42 Jahren an mir vorbeigegangen ist ! Diese Erkenntnis und die Tatsache, daß es mittlerweile einiges an videographischer Sekundärliteratur zu diesen tollen 8-Komma-nochwas Minuten gibt, hat mich beinah fassungslos gemacht; ich kann es mir nicht erklären, wie ich diesen Film nicht kennen konnte ! Von daher seien Sie sich meines aufrichtigsten Dankes versichert, daß Sie mir eine Wissens- und Genusslücke geschlossen haben. Paris habe ich mit dem Auto zwar noch nicht erfahren können, aber als Fußgänger vom Gare du Nord kommend, nachdem man im ersten Licht des Tages dort dem Nachtzug entstiegen ist, mit der ersten große Liebe Hand in Hand durch den Pariser Morgen zu laufen - eine unvergleichliche Stimmung, wie ich sie seitdem nirgends wieder erlebt habe!

Thomas Weidner / 29.04.2018

Schlimmer als “in einer Schlange stehen” - so das nicht stundenlang der Fall ist - ist doch die “rote Welle”, auf 5 km an jeder der 10…15 Ampeln anhalten, warten, anfahren, anhalten, warten, ..., zu müssen. Und das nur, weil dieser Zustand dem rotgrünen Stadtrat einen .... entlockt.

Archi W. Bechlenberg / 29.04.2018

Beim Lesen musste ich an einen Witz denken, den ich als kaum des Lesens Mächtiger einst in einer Autozeitschrift meines Vaters fand und nie vergaß: Was ist der Unterschied zwischen einer richtigen Schlange und einer Autoschlange? Bei der Autoschlange ist das Ar******* vorne. Ich bin ja aus dem Alter raus, aber wenn ich junge Leute heute vom Kulturschlangen-Schlangestehen erzählen höre, klingt das alles andere als kultiviert. Die dürfen nämlich einen wesentlichen Teil ihrer Lebenszeit damit verbringen, sich vor den Einlässen auf das Mitführen von Hieb-, Stich- und Bummwaffen untersuchen zu lassen. Wofür die Veranstalter nichts können; die wirklich Verantwortlichen sitzen sicher in ihren VIP-Logen.

Hjalmar Kreutzer / 29.04.2018

Ich habe vollstes Verständnis dafür, Berlin schnell zu durchfahren. Berlin - nur wenn ich muss. Neulich musste ich. Den Innenhof eines Wohn-und Geschäftshauses und die umliegenden Straßen durchwatete ich wie den Boden einer überdimensionierten Mülltonne mit angeschlossenem Urinal und Hundeklo. Man gönne sich nur einmal eine U-Bahn-Fahrt. Berlin verkommt. Wie dies in Paris aussieht, entzieht sich meiner Kenntnis. Im Filmchen erwartet den Ritter der rollenden Blechdose am Ende ja die schöne Frau - bon. Was an einem wie ein Berserker durch enge Gassen rasenden -schloch Anti-Nanny sein soll, erschließt sich mir leider überhaupt nicht. Das Filmchen hat die Faszination einer im nöchtlichen TV für Schlaflose gesendeten Führerstand-Mitfahrt auf der Berliner S-Bahn.

Peter Keller / 29.04.2018

Leider kein Ferrari, sondern gemäss Wikipedia ein Mercedes 450SL 6.9 Liter. Wunderbarer Film.

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen

Es wurden keine verwandten Themen gefunden.

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com