Demitrio Xolocotzi wartet seit 25 Jahren am Portal der Karthedrale von Puebla auf Kundschaft. Der über 80 Jahre alte Fotograf hat in dieser Zeit zehntausende von Pilgern, Touristen, Frischvermählten und Verliebten mit seiner antiquarischen Polaroid-Sofortbildkamera festgehalten. Der betagte Faltapparat erinnert an ein kleines Akkordeon. Seit dem Auftauchen der Foto-Handies ist das Geschäft schwieriger geworden, aber in letzter Zeit erliegen wieder mehr Kunden dem Charme von Demitrio und dem seiner „echten“ Polaroids. Vollzählige Großfamilien versammeln sich vor seiner Linse und lassen sich geduldig in Positur schieben. Das Ergebnis können sie dann in einem hübsch verzierten Passepartouts gleich mit nachhause nehmen, der Meister signiert auch auf Wunsch.
Der Fotograf mit dem alten mexikanischen Namen ist so zu einem Zeitzeugen der Veränderung des Landes und der Stadt Puebla geworden. Mexiko ist ein altes Land und zugleich sehr jung: Das Durchschnittsalter der 113 Millionen Einwohner liegt bei 27 Jahren, zwei Drittel der Menschen leben in den Städten vor allem in der Mega-Metropole Mexico-City, wo sich 21 Millionen ballen. Puebla beherbergt mit seinem Umland drei Millionen Bürger und gilt als kleine, feine Schwester der Hauptstadt. Die pittoreske Altstadt mit ihren Kneipen und Salsa-Schuppen lockt zahlreiche innermexikanische Touristen an, die ausgezeichneten Universitäten und Bildungseinrichtungen die junge Intelligenzia.
Der Ort, der ursprünglich „Puebla de los Ángeles“ hieß und etwa zwei Stunden von Mexico-City entfernt in 2000 Metern Höhe liegt, gilt als eine der Städte mit der höchsten Lebensqualität des Landes, ist ein kulturelles Zentrum und die mexikanische Auto-Metropole zugleich. Mit der Wirtschaft des Landes ging es seit liberalisierenden Reformen um die Jahrtausendwende bergauf, zwei der wichtigsten Säulen sind dabei die Auto-Industrie und das Erdöl. Als achtgrößter Autoproduzent der Welt hat Mexiko 2012 erstmals Spanien überholt. Volkswagen beispielsweise betreibt hier sein zweitgrößtes Werk nach Wolfsburg. Tag für Tag purzeln draußen vor den Toren der Stadt bis zu 2.500 Fahrzeuge vom Band. Wenn es gut läuft, können über eine halbe Million Autos im Jahr gebaut werden. „New Beetle“ , „New Jetta“ und der neue Golf, die hier für eine weltweite Abnehmerschaft produziert werden, sind der Stolz der Belegschaft. Doch die Stimmung ist gedrückt. Der erste Schlag ins Kontor war der VW-Dieselskandal, der ein Fünftel der Belegschaft den Job kostete. Jetzt geht die Sorge vor Donald Trumps Handelsbarrieren um, denn 60 Prozent der Produktion gehen in die USA.
Fotograf Demitrio erinnert sich noch daran wie Mitte der sechziger Jahre die ersten Käfer im Straßenbild auftauchten und der „Vocho“ dann zum mexikanischen Automobil schlechthin aufstieg. Selbst das Taxi-Gewerbe beförderte seine Fahrgäste jahrzehntelang mit dem unermüdlichen Krabbeltier. Der Versuch ein freies Taxi aus dem Verkehrsstrom herauszuwinken, wird immer noch „Vocho hunting“ genannt. Volkswagen hat in den vergangenen 50 Jahren halb Mexiko motorisiert und gehört inzwischen zum Kulturerbe. Die Marke gilt längst als mexikanischer Hersteller, es stört hier aber niemanden, dass Volkswagen auch noch in Wolfsburg gebaut werden.
Ein alter Käfer ist bei Überflutung unschlagbar
„Ich habe wie fast alle hier meinen Führerschein in einem Vocho gemacht“, erzählt beispielsweise Gabriel Arenas Hernández. Er begann seine Berufskarriere vor mehr als 20 Jahren als Praktikant bei Volkswagen und wacht heute als Produktions-Manager über die Qualität der produzierten "New Beetle". Gabriel Arenas Hernández hat freilich auch noch einen alten „Vocho“ in der Garage, den er sich einst vom Praktikantengehalt zusammensparte. „In der Regenzeit steht unsere Strasse häufig unter Wasser“, erklärt er, „dann ist der Vocho immer noch unschlagbar, er pflügt wie ein Dampfer durch die Fluten und hinterlässt eine gewaltige Bugwelle“.
Der Vater von vier Kindern ist einer von vielen, die ihre Chancen in der Autoindustrie konsequent genutzt haben: „Volkswagen bietet gute Sozialleistungen und Aufstiegsmöglichkeiten, entsprechend loyal und treu ist die Belegschaft“. Nicht wenige der in guten Zeiten rund 15.000 Mitarbeiter arbeiten in der zweiten oder gar dritten Generation bei VW-Mexico. So feilen in der Lehrwerkstatt 120 Auszubildende sorgfältig Rohling um Rohling zurecht, sie werden jährlich aus etwa 3.000 Bewerbern ausgewählt. Ein Ausbildungsplatz gilt gleichsam als Lotterie-Gewinn und beste Voraussetzung für eine erfolgreiche Karriere.
Als 1964 ein Standort für Volkswagen gesucht wurde, entschied man sich aus zwei Gründen für die Stadt. Einerseits stammte der damalige Präsident aus Puebla, andererseits liegt die Stadt strategisch günstig zwischen Pazifik und Atlantik. Über den Hafen von Acapulco gehen die Fahrzeuge nach China, Japan und Australien, über Veracruz nach Südamerika und Europa. Am wichtigsten aber ist die kurze Verbindung nach Norden in die Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada.
Der Wert der mexikanischen Autoexporte übertrifft in guten Jahren 30 Milliarden Dollar und liegt damit gleichauf oder sogar vor der Ölindustrie und dem Tourismus. Selbst die Summe der von im Ausland lebenden mexikanischen Gastarbeitern zur Familie nachhause geschickten Gelder, die für Mexiko eine gewaltige Rolle spielen, wird mitunter übertroffen.
Dass Volkswagen de Mexico etwa 80 Prozent seiner Fahrzeuge exportieren kann, ist allerdings auch einer klugen Wirtschaftspolitik zu verdanken: „Mexiko hat als einzige Land Freihandelsabkommen mit allen großen Automobil-Regionen, also Nord-Amerika, Europa, Japan und den meisten südamerikanischen Ländern“, erläutert der verantwortliche Manager, „von hier aus können wir zollfrei Autos in all diese Regionen exportieren“. Die in Puebla gefertigten Autos werden in mehr als 100 Länder geliefert. Der Verlust der USA wäre dennoch ein herber Schlag.
Die Jungfrau von Guadalupe beschützt die Werkhalle
Auf seine Weise ist das Werk in Puebla auch ein Schaufenster der mexikanischen Kultur. Etwa 80 Prozent der Mexikaner sind gläubige Katholiken und so steht in jeder Produktions-Halle ein meist haushoher Altar, den die Mitarbeiter dort aufgestellt haben und sorgsam pflegen. Bunte Farben und blinkende Lichterketten schmücken die angebetete Jungfrau von Guadalupe (Nuestra Señora de Guadalupe). Der Puebla-Crossover von christlicher Tradition, LED-Leuchten und Produktionsrobotern dürfte ziemlich einmalig in der Welt sein. Wenn man wollte, so könnte man die Produktionshallen von Puebla als größtes Gebetshaus der Welt bezeichnen.
Wer so weit nicht gehen will, darf aber eines ganz sicher behaupten: Das Autowerk betreibt hier zumindest die größte Kantine von Lateinamerika. Auf ein Dutzend Speisesäle verteilt tischen ein paar hundert begabte mexikanische Köche auf. An einem Rekord-Tag im Jahr 2010 sollen alleine 12 671 Portionen „Chiles en Nogada“ über den Tresen gegangen sein. Das traditionelle mexikanische Gericht, das aus gefüllten Paprika mit Walnusssauce und Granatapfelkernen besteht, gilt als mexikanische Nationalspeise. Die Zutaten repräsentieren die Nationalfarben Mexikos. Poblanos sind grün, die Sauce weiß und Granatapfelkerne rot.
Nicht vergessen sollte man auch den Ausblick auf den mexikanischen Haus-Vulkan Popocatépetel, der gerade mal 20 Kilometer entfernt liegt. Bei klarem Wetter baut der 5462 Meter hohe Vulkankegel sich vor dem Werk so unmittelbar auf wie ein Elefant vor einem Mauseloch. Seit ein paar Jahren stößt der aktive Vulkan wieder riesige Rauchwolken aus, die schon mal kilometerhoch steigen. Der Legende nach wacht dort oben ein Verliebter mit einer rauchenden Fackel neben seiner toten Freundin, was die Mexikaner von der prinzipiellen Gutartigkeit ihres unruhigen Nachbarn überzeugt sein lässt. Dennoch sind im Werk überall Verhaltensregeln und Fluchtwege für den Fall eines Ausbruchs angeschrieben. Beispielsweise soll man die Augen vor der aggressiven Asche schützen. Empfindliche Karosserieteile werden vorsorglich in Plastikfolien eingeschweißt und in großen Zelten gelagert. Doch der Vulkan hat auch seine guten Seiten: An seinen bewaldeten Hängen sammelt sich das Wasser für die Versorgung von Puebla.
In Sachen Lohnkosten ist Mexiko gewissermaßen ein Land im Transit
Am Haupteingang des Werkes wimmelt es zum Schichtwechsel wie auf dem Zentralbahnhof einer Großstadt. Hunderte weiße Busse mit der Aufschrifft „Volksbus“ sammeln in der gesamten Region Pendler ein und sorgen dafür, dass sie pünktlich und unkompliziert ihren Arbeitsplatz erreichen. Die einstmals gute Bahn-Infrastruktur des Landes ist leider verschlissen und versunken und viele Menschen können sich in Mexiko noch kein eigenes Auto leisten. Die Löhne sind im Vergleich zum Nachbarland USA immer noch niedrig, für die Verhältnisse in Schwellenländern jedoch relativ hoch. In Sachen Lohnkosten ist Mexiko gewissermaßen ein Land im Transit, denn viele Arbeitsplätze, beispielsweise die der einst blühenden Textilindustrie, sind inzwischen in noch günstigere Standorte ausgewandert. Qualität und Know How werden deshalb als Argument für Mexiko immer wichtiger.
Wobei den Mexikanern ihr Erfindungsreichtum und ihre Gabe, auch die kleinste Marktlücke für sich zu entdecken entgegen kommt. Das Volkswagenwerk besitzt ein knappes Dutzend Zugangstore und vor jedem einzelnen blüht die sogenannte „informelle Wirtschaft“. Menschen ohne Aussicht auf eine reguläre Stelle, erfinden hier zu Tausenden ihren eigenen Arbeitsplatz. Gemüse- und Obsthändler, Kleinkantinen und Nippes-Verkäufer bieten ihre Ware an. Hunderte von schweren Lastwagen warten darauf, ihre Container just in time abzuliefern oder abzuholen. Die Fahrer sind meist auch Besitzer ihres Trucks. Der Lastwagen ist ihr ein und alles: Ständiger Wohnort, Heimat und unternehmerisches Vermögen.
Zwischen den Trucks kurvt Fernando auf seinem roten Honda-Moped herum. Im Gepäck hat er einen alten Labtop, auf den er die neusten Salsa- und Gumbia-Hits kopiert hat. Viele der Trucker warten schon auf Fernando, denn für ein paar Pesos spielt er seinen brandaktuellen Mix auf ihre MP3-Player, die über Nachtfahrten und lange Wartezeiten hinweghelfen. „Es ist einfach unglaublich, was unseren Landsleuten alles einfällt, um zu überleben“, sagt Consuelo Minutti, Leiterin der Unternehmens-Kommunikation. Auf ihrem Nachhause-Weg muss sie eine besonders marode Strasse mit tiefen Schlaglöchern passieren. „Viele Autofahrer bleiben mit einem Plattfuss liegen“, erzählt sie, „aber es hat sich dort sofort ein junger Mann mit einem großen hydraulischen Wagenheber angesiedelt, der ständig auf und ab fährt und praktisch sofort zur Stelle ist“.
Die Weltmetropole der Auspuff-Reparatur
Den Weg zum Kleinunternehmen haben die vielen kleinen Auto-Werkstätten geschafft, von denen es alleine in Puebla Tausende geben muss. Sie schaffen es auf wundersame Weise, jedes noch so marode Vehikel wieder so zusammenzuflicken, dass es weiterhin am Straßenverkehr teilnehmen kann. Alleine angesichts der zahlreichen Shops mit Schalldämpfern könnte man auf die Idee kommen, Puebla sei die Welt-Metropole der Auspuff-Reparatur. In anderen Straßen ballen sich Waschsalons, in denen Autos von Hand und mit einer solchen Hingabe geputzt werden, dass man die Belegschaft am liebsten auf Dauer adoptieren würde.
Auch Consuelo Minutti hat ein Herz für die Zulieferer, allerdings geht es dabei um diejenigen, die in der Nahrungskette schon ganz oben angekommen sind. Die internationale Crème de la Crème der Branche hat sich meist gleich neben dem Werk im Industriepark FINSA angesiedelt – vom Reifen- bis zum Gussteile-Hersteller, vom Logistik-Dienstleister bis zum Maschinenbauer.
Der Stadt geht es gut und sie gilt als besonders sicher. Angeblich, weil die mexikanischen Narko-Bosse hier ihre Kinder in die Schule schicken. Das nagelneue Veranstaltungs-Zentrum wird umgeben von einem nagelneuen Wohnviertel, nicht weit entfernt steht ein nagelneues Universitäts-Gebäude und ein nagelneues Kulturzentrum mit Theatern und Konzertsälen. „Dieses moderne Mexiko kommt in der Berichterstattung über unser Land selten vor“, sagt Consuelo Minutti, „aber es ist für Mexiko inzwischen repräsentativer als viele althergebrachte Klischees“.
Besonders sympathisch wirkt es allerdings, wenn das Moderne und das Traditionelle ungewöhnliche Symbiosen eingehen. Wie unten in der Altstadt. Da wo Rentner in einem Social-Club ihre Tanzkreise drehen oder die Gäste im „La Pasita“ seit 100 Jahren denn gleichen „Shot“ runterkippen, da tut sich hinter den Fassaden auch Ungewöhnliches. Héctor Fernandez de Lavu Huesca, hat sich hier seinen Traum von einem kleinen Design-Hotel erfüllt. Manche nennen mich dem „Philippe Stark von Mexiko“ grinst der junge Mann und führt den Gast durch die verwinkelten Innenhöfe und verrückt-stilvollen Zimmer des „El Sueňo“ (Der Traum). „Puebla besitzt eine der größten und schönsten Altstädte von Lateinamerika“, sagt er, „ich will auf meine Art dazu beitragen, das zu erhalten.“
Doch auch weiter draußen im modernen Hotelpalast „Interconti-Presidente“ ist der Gast nicht vor Überraschungen sicher. So steht dort ein makelloser Käfer, Baujahr 1962, geschmückt mit Weißwandreifen und Deutschlandfahne, auf dem Hotel-Parkplatz. Besitzer Arturo Fernandez Urrutia ist für einen Wochenendausflug von Mexico-City herübergekommen. Als er das verstaubte Auto seinerzeit erwarb wunderte er sich über zwei Dinge: Der Lack entpuppte sich als beinahe neuwertig, die Bremsen hingegen als nicht vorhanden. Der Vorbesitzer hatte allerdings einen guten Draht zum lieben Gott: Er war Priester in Mexico-City.